05. Tagesausflug

©Bild: Wouter Hagens, CC BY-SA 3.0 https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0, via Wikimedia Commons

Plötzlich ein Aufschlagen, Zusammenzucken, wie bei einem starken Stromschlag – und ich war wach.

Ringsherum drückende Finsternis, nur unter der Zimmertür ein schmaler Lichtspalt. Von draußen hörte man das Wellenrauschen, der Vorhang bewegte sich leicht im Luftzug. Über mir der Schattenriss des Ventilators – er stand still, ich hatte das Gerät vorm Schlafengehen ausgeschaltet, wie gewohnt.

Ich schob das Laken beiseite, wollte aufstehen – und sank erschöpft auf die Matratze zurück. Hinter meiner Stirn pochte es dumpf, alles drehte sich. Wieder der Traum! Seit ich hier war, kam er fast jede Nacht, es wurde immer schlimmer…

Die nächtliche Hochebene, die Berggipfel, der Vollmond, immer wieder hinter Wolken verschwindend. Dann der Unbekannte, verfolgt von den schwarzen Schatten. Am Horizont die See, silbrig glänzend, verheißungsvoll. Davor liegt die Schlucht, man erkennt sie, wenn auch bloß schemenhaft. Der Flüchtende aber sieht sie nicht…

Ich griff nach der Wasserflasche und trank sie komplett leer. Als es mir endlich besser ging, erhob ich mich zaghaft und wankte zur Balkontür. Draußen war die Luft kaum weniger dumpf und feucht als im Zimmer. Über der nächtlichen See flimmerten ein paar Sterne. Das Animationsgelände war um diese Zeit längst verwaist, die Showbühne abgeräumt und dunkel. Leere Plastikbecher rollten über die Terrakotta-Fliesen, ein auflandiger Wind ließ im Pool kleine Wellen entstehen, die nervös gegen die steinerne Umfassung klatschten.

Dieser verdammte Albtraum – was mochte er bedeuten? Weshalb verfolgte er mich so hartnäckig? Und der Flüchtende – wer war das? Ich musste ihm begegnet sein, vor langer Zeit. Ein quälendes Schuldgefühl lastete auf mir, sobald ich erwachte. Die unerträgliche Gewissheit, ihm wieder nicht geholfen, ihn ein weiteres Mal den Spinnenwesen überlassen zu haben. Aber welchen Sinn hatte das alles? Für was standen diese widerwärtigen Kreaturen? Und vor allem: Um wen handelte es sich bei dem Unbekannten?

Wie auf einer Leinwand sah ich ihn in Todesangst davonhetzen, hinter sich die dunkle, wimmelnde Meute. Musste ohnmächtig beobachten, wie er dem Abgrund entgegenlief. Ich konnte nichts tun, das Unglück nicht verhindern. Schließlich der Sturz…

Und am Ende war ich es plötzlich selbst, der aufprallte.


Die Straße schlängelte sich an der senkrecht ins Meer abfallenden Felswand entlang. Blickte man aus dem Busfenster, sah man tief unter sich Wellen gegen den blank gewaschenen Stein schlagen. Das Wasser der Bucht leuchtete in reinstem Türkis.

Weiter draußen allerdings lag ein kompakter Dunstvorhang bleischwer auf der See. Das Gebilde erinnerte an ein gigantisches Nachtgespenst, das sich aus dem Meer erhoben hatte – mitten am Tag. Immer wieder verschwand während der kurvenreichen Fahrt die Sonne darin, mutierte zu einem diffusen Lichtfleck, der von Brechungen in allen Regenbogenfarben umringt war.

Meine Mitreisenden schienen das Phänomen nicht weiter zu beachten, ich war offenbar der Einzige, den es beunruhigte. Obwohl ich eigentlich wusste, dass es von der besonderen Wetterlage herrührte. Der Hotelportier hatte es mir vorhin erklärt, auch im Reiseführer konnte man darüber lesen: Eine spezielle, bloß temporär auftretende Luftströmung, die Sandmassen aus der Sahara übers Mittelmeer bis hierher transportierte. Mit dem Sand kam die Hitze Afrikas, und tatsächlich zeigte das Thermometer bereits jetzt, am Vormittag, fast 40 Grad Celsius. Schlimmstenfalls hielt dieses schwülheiße Wetter mehrere Wochen an, aber wir würden wohl glimpflich davonkommen: Laut Vorhersage stand ein Gewitter bevor, bereits morgen sollten die Temperaturen wieder auf das gewohnte Maß absinken. Was immer noch mehr als genug war.

Pausenlos kamen uns auf der engen Küstenstraße Baufahrzeuge entgegen, Betonmischer, Tieflader, Sattelschlepper. Sie schienen sämtlichen Platz zu beanspruchen, die Kolosse, aber der Busfahrer ließ sich durch ihren Anblick nie aus der Ruhe bringen. Stoisch setzte er zurück, fuhr wieder vor, kurbelte das Lenkrad wie ein Schiffsruder und versuchte, sein Vehikel am anderen Fahrzeug vorbei zu bugsieren. Obwohl diese Manöver uns manchmal gefährlich nah an den Abgrund führten, wollte einfach keine Angst aufkommen, weder bei mir noch bei den anderen Fahrgästen: Zu abgeklärt und südländisch entspannt wirkte dieses kleine, runde, stoppelbärtige Männchen da vorn am Steuer, mit ihm konnte einfach nichts schiefgehen.

Nach gut zwanzigminütiger Fahrt öffnete sich hinter einer Kurve der Blick aufs Nachbartal. Es war noch weitläufiger als das von Plage d’Aiola, trotzdem hatte man auch hier alles mit Ferienarchitektur zugepflastert, regelrecht verfüllt. Bis weit ins Landesinnere folgte Hotelbunker auf Hotelbunker, reihte sich Ferienvilla an Ferienvilla. Ungefähr in der Mitte dieses Häuserteppichs prangte die Kuppel einer Kirche im Renaissance-Stil – wohl ein Versuch, dem Ganzen ein bisschen Authentizität zu verleihen, der leider in Disney-World geendet hatte. Der Gipfel an Künstlichkeit war aber ein Golfplatz, dessen leuchtendes, vor Frische strotzendes Grün der brutalen Sonne Hohn sprach. Es bedurfte diverser Wasserfontänen, um das absurde Gebilde am Leben zu erhalten. Und noch immer wurde überall eifrig gewerkelt, man sah offene Gruben, Bagger, Planierraupen. Ein Wald von Kränen ragte in den Himmel, Baufahrzeuge verließen in endloser Folge den Ort und quälten sich die Küstenstraße hoch – daher also der lebhafte Gegenverkehr während der Fahrt.

Wenn man sehr konzentriert suchte, fand man schließlich auch das ursprüngliche Porto d’Arreccio, zusammengedrängt auf einem Flecken zwischen Meer und Steilwand. Ganz hinten schoben sich die traditionellen, weiß getünchten Fischerhäuser ein Stück den Fels hoch. Zwischen dem alten Städtchen und dem Neubauareal griff eine Steinmole weit ins Meer hinaus und ließ ein Hafenbecken entstehen. Schneeweiße Segelboote dümpelten dort im seichten Wasser, neben protzigen Motoryachten. Fischkutter hingegen sah man bloß wenige; überhaupt trat der alte Ort kaum in Erscheinung neben den sterilen Neubauten, die sich wie eine großflächige, pilzartige Wucherung über das Tal breiteten.

Je näher man ihr kam, desto stärker erinnerte diese neu errichtete Siedlung an eine Filmkulisse oder ein zu groß geratenes Modell aus Pappmaché. Gerade dieses Artifizielle, Trostlose jedoch erschien mir merkwürdig vertraut, wie ich plötzlich mit Unbehagen feststellte. Es fühlte sich ein bisschen so an, als würde ich nach Hause zurückkehren…

Die Bremsen quietschten jammervoll, als der Bus ins Tal hinabrollte. Zum Lärm gesellte sich bald ein Geruch nach verbranntem Gummi. Wir passierten die ersten, in der Sonne glühenden Häuser, erreichten schließlich eine zentrale Station. Der Bus hielt, die Türen öffneten sich zischend. Beim Aussteigen hatte ich das Gefühl, vom Luftstrom eines gigantischen Föns erfasst zu werden, so brüllend heiß und stickig war es inzwischen geworden. Ich rettete mich unter eine Gruppe Dattelpalmen, holte die Wasserflasche aus dem Rucksack und trank. Währenddessen lenkte unser Fahrer sein Vehikel auf einen benachbarten Parkplatz und stellte es neben einer Gruppe weiterer Busse ab, die ähnlich hinfällig aussahen wie seiner. Dann trottete er zu seinen Kollegen, die im Schatten eines Kiosks zusammenstanden und palaverten.

Ich studierte den Rückfahrplan: Der letzte Bus fuhr erst um Mitternacht nach Plage d’Aiola zurück, also konnte ich mir Zeit lassen mit meiner Besichtigungstour. Auf dem Weg hinunter zum Wasser versuchte ich mich im Schatten zu halten, was nicht so einfach war, denn inzwischen stand die Sonne fast genau im Zenit. Wenn sie mich traf, schien meine Haut unter ihrer Hitze regelrecht zu versengen.

Endlich kam ich zum Hafen. Pittoreske, blumengeschmückte Arkaden säumten die Piers; überall gab es Weinlokale, Restaurants, kleine Hotels. Zwischen den alten Fischerhäusern öffneten sich malerische, gepflasterte Gassen, die allesamt zum historischen Ortskern hochliefen, wie man den Wegweisern ringsum entnehmen konnte. An der Grenze zur neu errichteten Siedlung endete das Idyll schlagartig: Eine schmucklos graue Betonpromenade begann, auf einmal war man umgeben von Souvenirläden, Ramschboutiquen und Schnellimbissen, aus allen Richtungen schallte einem der übliche Ferienpop entgegen. Trotz der Hitze schoben sich wahre Menschenmassen über den Asphalt, drängelnd, quasselnd, gierig in den Auslagen der Geschäfte wühlend, auf der Suche nach Schnäppchen, Zerstreuung, Amüsement.

Schon wollte ich kehrt machen, wieder in die Altstadt fliehen, als ich weiter hinten auf der Promenade eine freie Bank entdeckte, die zufällig auch noch im Schatten der Ladenmarkisen stand. Weshalb nicht dort warten, bis die Hitze etwas abgenommen hatte, derweil den Proviant vertilgen und ein bisschen gucken? Anschließend blieb noch immer genügend Zeit, um den Ort zu erkunden und – vor allem – der Aussichtsplattform einen Besuch abzustatten. Diese war gemäß dem Reiseführer oberhalb der Altstadt in die Felswand geschlagen und sollte einen imposanten Blick über die Bucht bieten. Vermutlich würde es dort oben brechend voll sein, aber wenn man schon mal hier war…

Ich schnallte den Rucksack ab, ließ mich erleichtert auf die Sitzfläche fallen und holte den Proviant hervor. Während ich Brotzeit machte, ging das hektische Treiben ringsumher unvermindert weiter, aber davon ließ ich mich nicht beirren – meine Bank schien mir wie ein Ruhepol, eine Oase inmitten trostloser Wüste.

Unterhalb der Promenade war ein schmaler Sandstreifen aufgeschüttet, den man kaum Strand nennen konnte. Kleine Wellen spülten kraftlos heran, im flachen Wasser plantschten Kinder. Menschliche Körper auf Handtüchern boten sich der Sonnenglut dar. Manche Teints zeigten intensive Brauntöne, andere leuchteten in Krebsrot. Auch ein paar Weißlinge waren dabei, deren Urlaub wahrscheinlich gerade erst begonnen hatte. Weiter draußen sah man die Steinmole aufragen, die den Hafen vor der offenen See schützte.

Einige der Sonnenanbeter lagen so reglos dort, dass man sich unwillkürlich fragte, ob sie noch lebten. Warum taten die Leute sich diese Qualen an? Wurden sie durch eine Art Konditionierung gesteuert, die da hieß: Urlaub gleich Strand gleich Sonnenbaden, egal bei welchen Temperaturen? Und weshalb kamen sie ausgerechnet hierher? Wir befanden uns auf einer Insel, die Küste war endlos und sicherlich gab es diverse natürliche Badestellen. Sie aber zogen diese künstliche Bucht vor, die das Meer beleidigte, es zu einem Swimmingpool, einem armseligen Salzwassertümpel degradierte. Wozu verbrachten überhaupt Touristen ihren Urlaub an Orten wie Plage d’Aiola oder Porto d’Arreccio, wenn sie doch die Welt haben konnten in all ihrer Schönheit und Ursprünglichkeit?

Und ich selbst? Warum war ich hier? Ich hatte mein altes Leben komplett aufgegeben, um neu anzufangen – und jetzt saß ich auf dieser Bank. War ich denn besser als die anderen Feriengäste? Auch mich zog es doch in die Touristensiedlungen vom Reißbrett, die garantiert überall gleich aussahen – und es ja auch sollten. Was unterschied mich von all den normierten Gestalten ringsum, deren Urlaub auf billigen Promenaden und an künstlichen Stränden stattfand? Die niemals jene obligatorischen Bahnen verließen, die andere für sie vorgestanzt hatten?

Die Einsicht traf mich wie ein Stoß in die Magengrube; plötzlich lag mir ein galliger Geschmack auf der Zunge. Ich dachte an die Busfahrt zurück, jenes irritierende Gefühl von Vertrautheit, als das Tal von Porto d’Arreccio mitsamt seinen sterilen Kästen aufgetaucht war. Dieser monotone, seelenlose Ort – ähnelte er nicht auf erschreckende Weise meiner Heimatstadt? Spiegelte er nicht meine eigene Vergangenheit wider, meine Kindheit und Jugend?

Ich hatte sehr lange nicht an diesen Teil meines Lebens zurückgedacht, dessen Trostlosigkeit mir inzwischen als zutiefst fremd erschien, als nicht mehr wirklich zu mir gehörend. Aber nun kehrten sie zurück, die alten Bilder, stiegen unvermittelt empor aus dem Dunkel des Vergessens, Erinnerungen an Familie und Schule, die ehemaligen Freunde… immer stärker wurde der Strom, sogartiger, zwingender. Als wäre auf einmal ein innerer Damm gebrochen, den ich vor langer Zeit errichtet hatte, in der irrigen Annahme, er hielte ewig…

Loading

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert