© Cover by Sheldon Moldoff, Public domain, via Wikimedia Commons
„Stadt“ konnte man es im Grunde gar nicht nennen, das Gebilde, in dem ich aufgewachsen war. Vielmehr handelte es sich um ein Konglomerat aus diversen Siedlungen, Dörfern und sonstigen Gebäudeansammlungen, die man unter einem Kunstnamen zusammengefasst hatte. Als zusätzlicher Klebstoff diente ein rasch hochgezogenes, gesichtsloses, rein funktionales Zentrum – und fertig war die Stadt aus der Retorte. Weshalb verbrachte man an einem verlorenen Flecken wie diesem freiwillig sein Leben? Man arbeitete in einem der großen regionalen Industriebetriebe, dem Stahlwerk, dem Autobauer, dem Hersteller für Schienenfahrzeuge, oder einem der Zulieferer. Hatte eine ordentlich bezahlte Anstellung, von der man nach Lage der Dinge hoffen durfte, sie bis zur Pensionierung zu behalten. Sich stets gut versorgt zu wissen, den Wohlstand laufend mehren und derweil die Zeit mit Konsum totschlagen – dies war das allgemeine Lebensmodell. Also kaufte man. Häuser, schwere Familienkutschen, hochpreisige Fernseher und andere, vermeintlich unverzichtbare Elektrogeräte. Machte Urlaub in fernen Weltgegenden, widmete sich mitunter kostspieligen Hobbys, trieb aufwändigen Sport, hielt sich Haustiere. Und bekam Kinder.
Mir hatte es damals an nichts gemangelt. Als kleiner Junge besaß ich alles Spielzeug, das eine Kinderseele sich nur wünschen konnte. Für den Fußballverein wurde mir jedes Jahr eine neue, teure Torwart-Ausstattung gekauft. Wenn ich in der Schule den Anschluss zu verlieren drohte, erhielt ich umgehend private Nachhilfestunden. Mein Vater war Prokurist in einer Maschinenbau-Firma, meine Mutter hatte früher ebenfalls dort gearbeitet, als Sekretärin, aber seit meiner Geburt blieb sie zu Hause. Als Einzelkind durfte ich mir der steten Aufmerksamkeit meiner Eltern sicher sein, im Gegenzug wurde lediglich verlangt, dass ich funktionierte. Mich einordnete und die geforderte Leistung ablieferte, in der Schule, beim Sport, im täglichen Leben. Es war derselbe unausgesprochene Deal wie in allen Familien: Die Kinder mussten ihren Anteil beisteuern zum positiven Gesamteindruck, den man der Außenwelt bieten wollte, dafür ließen die Eltern uns jede notwendige Förderung zukommen.
Irgendetwas Wesentliches schien in diesem Konstrukt jedoch zu fehlen; immer blieb diese seltsame Lücke, dieses Schwarze Loch…
Im Fernsehen hatten die Familienväter strahlende Gesichter, wenn sie von der Arbeit nach Hause kamen. Sie umarmten glückliche, hingebungsvolle Gattinnen, mit den Kindern wurde nach Kräften getobt und gerauft, das Abendessen verlief lebhaft und herzlich. Meine Wirklichkeit sah komplett anders aus. Wenn mein Vater abends die Haustür aufschloss, lag in seiner Miene etwas Starres, Gezeichnetes. Der Begrüßungskuss zwischen ihm und meiner Mutter wirkte mechanisch, eine reine Gewohnheitshandlung. Ihre pflichtschuldige Frage nach seinem „Tag“ beantwortete er stets mit einem knappen, leicht mürrischen „Muss ja“. Sie gab sich alle Mühe, als gute Ehe- und Hausfrau zu erscheinen, aber wenn man genau hinsah, merkte man, dass diese Rolle sie nicht ausfüllte, der lange, einsam verbrachte Tag sie unglücklich machte. Allerdings wollte niemand genau hinsehen, weder bei uns noch in den anderen Häusern der Siedlung, wo es ähnlich lief.
Beim Essen war, abgesehen vom Klappern der Teller und Bestecke, kein Geräusch zu hören. Erst der Fernseher beendete die lähmende Stille, wenn mein Vater um 19 Uhr die „heute“-Sendung einschaltete. Früher hatten wir abends manchmal noch Karten gespielt oder eine Partie Mensch-Ärgere-Dich-Nicht. An den Wochenenden waren wir in den Zoo gefahren, hatten Ausflüge in die Umgebung gemacht. Aber all das lag lange zurück. Inzwischen blieb mein Vater den Rest des Abends und einen Großteil des Wochenendes vor dem Gerät sitzen; ohne Kraft für Aktivitäten mit der Familie, mit mir.
Meine Altersgenossen beklagten sich nie, für sie schien das der normale Gang der Dinge zu sein. Für mich dagegen fühlte das Leben sich künstlich an, schematisch. Als würde es auf Gleisen verlaufen. Die Dinge wurden verrichtet, erledigt, abgespult, abgehakt; jede Aktion, jedes Ereignis war von vornherein festgelegt und geplant. Je älter ich wurde, desto stärker empfand ich es so. Die Menschen schienen nur Rädchen in einer Maschinerie zu sein, einem gigantischem Uhrwerk. Fortwährend drehten alle sich im Kreis, liefen ihre Runden im Hamsterrad, verausgabten sich und bewegten sich doch nicht von der Stelle. Darüber stellte sich dann allmählich dieses Gefühl von Sinnlosigkeit ein, diese innere Leere, die mit Dingen gefüllt werden musste, mit Gütern, technischen Geräten, bunten TV-Bildern, Events, Reisen. Alles, was irgendwie betäubte, war recht. Und auch diese Betäubung gehörte dazu, war Teil des großen Ganzen, befeuerte es stets von Neuem. Es war wie ein sich selbst erhaltendes System, ein ausgeklügelter Algorithmus – perfekt, aber leblos.
Dachte ich als Einziger so oder gab es noch andere meiner Sorte? Diese Frage blieb unbeantwortet, denn niemals wagte ich, mit jemandem über dieses Thema zu sprechen. Und so musste ich selbst einen Ausweg finden, irgendeine Möglichkeit, nicht allmählich von dieser trostlosen, reduzierten und reduzierenden Welt vereinnahmt zu werden, wie es mit allen anderen geschah.
Das Lesen war meine Rettung. Schon früh, ungefähr mit zehn, hatte ich irgendwelche Hefte in die Hände bekommen, Gruselromane, Horrorgeschichten. Die Storys waren simpel gestrickt, sie trennten jederzeit Gut von Böse und endeten in der Regel versöhnlich. Aber gerade diese schlichte Struktur ermöglichte schnelles Abtauchen. Und immer stand das Irrationale im Mittelpunkt, das Unerklärliche, Geheimnisvolle. Übersinnliche Mächte waren am Werk, denen mit Vernunft und Technik nicht beizukommen war. Alles war möglich, keine Idee zu absurd, um von den Autoren nicht aufgegriffen zu werden.
Natürlich verkörperten derartige Machwerke das komplette Gegenteil dessen, was gemeinhin als „gute Literatur“ gepriesen wurde. Spannung und Gefühle waren verpönt, Genres wie Horror oder Sciencefiction galten als Schund. Bücher hatten vernünftig zu sein, eine Botschaft zu vermitteln, man sollte etwas aus ihnen lernen. Kurzum: Sie sollten exakt jene Künstlichkeit widerspiegeln, die mich umgab und deren Ausgang ich verzweifelt suchte.
Meine Heftchen lieferten ihn mir, diesen Ausgang; durch sie entdeckte ich eine neue, aufregende, fantastische Welt. Besonders gut gefielen mir Storys, in denen das übliche, vorhersehbare Grundmuster durchbrochen wurde. Dies kam durchaus vor, wenn auch selten. Der Plot meines Lieblingsheftes zum Beispiel war im Italien der Gegenwart angesiedelt, auf einem historischen Schloss im Hochgebirge. Hier geriet der Protagonist, ein junger, moderner Amerikaner, in den Bann eines Fluchs, der auf dem Gemäuer und seinen Bewohnern lastete. Anfangs noch der klassische, männlich-souveräne Held, der stets Ruhe und Überblick bewahrte, entglitt ihm die Situation zusehends, bis er schließlich Hals über Kopf fliehen, sein nacktes Leben retten musste. Am Ende wollte niemand ihm seine Erlebnisse glauben; der Verdacht stand unausgesprochen im Raum, dass er seinen Verstand verloren habe. Zumal die Polizeibeamten bei ihren Recherchen nur eine Ruine vorfanden – das Schloss war mehr als 150 Jahre zuvor von seinen Bewohnern aufgegeben worden.
Häuser, in denen es spukte, rätselhafte Phänomene, Geister aus der Vergangenheit – wie sehr ich mir wünschte, dass dergleichen existierte, aller Gelehrtenweisheit zum Trotz! Dass eines Tages in Erscheinung trat, wovon meine Hefte nur erzählten. Dass die vermeintliche Realität in ihren Grundfesten erschüttert wurde und all die traurigen, rationalen Figuren, die jetzt noch mein Leben bestimmten, endlich einpacken konnten!
Zu den Büchern gesellten sich mit Erreichen des zwölften Lebensjahres auch Filme: Nun durfte ich mir endlich die Horror- und Sciencefiction-B-Movies anschauen, die jeden Sonntagnachmittag in unserem lokalen Kino liefen. Mein Pandämonium aus wandelnden Skeletten, zum Leben erweckten Mumien und fliegenden Schrumpfköpfen wurde jetzt ergänzt um Marsmenschen und andere Außerirdische, um aus dem Tiefschlaf erweckte urzeitliche Reptilien und Insekten, die infolge von Atomunfällen ins Riesenhafte gewachsen waren. Im Lauf der Zeit entwickelte ich mein Phantasie-Universum weiter, vertiefte und verfeinerte es. Ich entdeckte die englischsprachigen Horror- und Sciencefiction-Klassiker: Blackwood, Lovecraft, Edgar Allan Poe, H.G. Wells. Die Bücher besorgte ich mir auf Flohmärkten oder bestellte sie antiquarisch per Mailorder.
Zwischen anderen Menschen hingegen, egal ob Erwachsene oder Altersgenossen, ob in der Schule, im Verein oder nachmittags im Viertel, fühlte ich mich immer unwohler und deplatzierter. Vor allem eine Situation blieb mir fortan im Gedächtnis, die diesen Entfremdungsprozess besonders veranschaulichte. Sie trug sich in der Umkleidekabine unseres Fußballvereins zu, vor einem wichtigen Punktspiel. Zwei Mannschaftskameraden waren in einen erbitterten Streit darüber geraten, wessen Vater das schnellere Auto fuhr: der mit dem Mercedes oder der mit dem BMW. Der BMW würde schneller beschleunigen, behauptete der eine. „Aber der Mercedes“, erwiderte der andere, „ist besser in der Endgeschwindigkeit.“
Keiner der beiden wollte zurückstecken, es ging hin und her. Immer mehr Umstehende beteiligten sich an der Diskussion, schlugen sich auf die eine oder andere Seite. Auch ich wollte erst mitmachen, aber auf einmal merkte ich, dass ich keine Meinung hatte. Mehr noch: Die ganze Sache war mir eigentlich ziemlich schnuppe. Und so saß ich bloß stumm zwischen den Parteien und schüttelte innerlich den Kopf, dass man sich wegen so einer Nichtigkeit derart ereifern konnte. Schließlich riss mir der Geduldsfaden. „Ist doch egal, welche Karre schneller ist!“, rief ich dazwischen. „Dreck machen beide, und zwar mehr als genug.“ In der Schule hatten wir kurz zuvor über Umweltverschmutzung gesprochen, mit Schwerpunkt auf dem zunehmenden Autoverkehr.
Schlagartig wurde es still, man hätte die sprichwörtliche Stecknadel fallen hören. Alle glotzten mich an, in den Gesichtern Erstaunen, Irritation, Unmut.
„Was hat das jetzt damit zu tun?“, kam es aus der einen Ecke.
„Kaufst du dir später etwa kein Auto?“, scholl es aus der anderen.
„Doch, klar“, stotterte ich überrascht. Kein Auto – das wäre ja gewesen wie kein Fernseher oder kein Dach über dem Kopf. „Aber muss es gleich so eine dicke Karre sein?“, verteidigte ich mich.
„Was denn sonst? Ein R4? Oder ne Ente?“, fauchte der Reservetorhüter. Er hatte es nie verwunden, dass er statt meiner auf der Bank saß. „Bist du n Mädchen? Hast du keine Eier?“
Offene Feindseligkeit schlug mir plötzlich entgegen, Wut, Aggression. Aber nun wollte ich erst recht nicht zurückstecken. „Leute, überlegt doch mal: Wenn alle nur noch solche Autos kaufen, und noch dazu immer mehr – wie soll man die Umweltverschmutzung…“
„Jetzt sei endlich still, Marc!“, bellte der Trainer plötzlich los, „die anderen reden hier über Autos, und du kommst mit Umweltverschmutzung. Geht’s noch? Konzentrier dich lieber aufs Spiel, du hast schon mal besser gehalten.“
Was sollte das jetzt? Er war doch mit meiner Leistung immer zufrieden gewesen. Hatte ich irgendwas nicht mitbekommen? Als wir hinausgingen, herrschte eisiges Schweigen. Alle ließen mich spüren, dass ich eine rote Linie überschritten, eine Art Tabu gebrochen hatte. Für sie war ich jetzt ein Spalter, jemand, der sich bloß wichtig machen wollte. Die Partie verloren wir klar mit 0:2, und bei beiden Treffern sah ich nicht gut aus. Wobei ich die ganze Zeit das Gefühl hatte, 21 Gegenspieler zu haben anstatt 11, wie sonst. Einige Tage später eröffnete mir der Trainer, dass er für den Rest der Saison auf den Reservetorwart setzen würde.
Ich entschloss mich, den Verein ganz zu verlassen. Darüber gab es Streit mit meinem Vater; zum ersten Mal seit langem zeigte er Engagement, jedenfalls ein bisschen. Es reichte nicht; am Ende setzte ich mich durch. Die Szene in der Umkleide hatte mir eine Sache unmissverständlich klar gemacht, die insgeheim schon seit längerem in mir arbeitete: Man durfte nicht ausscheren, nicht von der vorgegebenen Linie abweichen. Und erst recht durfte man nicht am allgemeinen Weltbild rütteln, nicht dieses permanente Immer-Mehr, Immer-größer, Immer-schneller infrage stellen, ansonsten riskierte man, massiv angefeindet und fertiggemacht zu werden.
Aber nicht nur den Sport gab ich in der Folge auf, sondern nach und nach auch alle anderen Aktivitäten, AG’s in der Schule, Treffen mit Freunden. Stattdessen zog es mich nun, sobald die Hausaufgaben erledigt waren, ins Freie. Ich unternahm Wanderungen oder Radtouren zu interessanten Zielen in der Umgebung, einer leerstehenden Villa, einer historischen Wasserburg, die sorgfältig erhalten und sogar noch bewohnt war. Als ich 18 wurde und mein erstes Auto bekam – einen gebrauchten Polo –, erweiterte sich der Aktionsradius für meine Exkursionen beträchtlich. Vor allem erkundete ich nun die großen Wälder der Region, schlug manchmal irgendwo in der Einsamkeit mein Zelt auf und verbrachte ein ganzes Wochenende dort.
Ungefähr in dieser Zeit begannen auch meine abendlichen Rundgänge: Mit dem neuen Vehikel fuhr ich in Orte, deren Altstadt gut erhalten war, und lief dort in den Straßen herum. Betrachtete die Bilder in den erleuchteten Fenstern der historischen Häuser und interpretierte sie auf meine Weise. Malte mir eine Gemeinschaft aus, in der es Wärme gab, Intensität. Stellte mir ein Leben vor, das sich „echt“ anfühlte, obwohl ich nur schwerlich hätte erklären können, was ich damit meinte. Jedenfalls hätte in ihm diese Leere nicht existiert, die meine Wirklichkeit prägte, sie beherrschte wie ein ehernes, unüberwindliches Gesetz. Das Miteinander hätte im Fokus gestanden, nicht das glatte, fehlerfreie Funktionieren in einem System. Nähe und Verlässlichkeit wären wichtiger gewesen als das Besitzen von Dingen und das Streben nach immer mehr – Güter, Status, Geld.
Ziemlich sicher gab ich mich einer Illusion hin, unterschied das Geschehen dort hinter den Fenstern sich in nichts von meiner eigenen Lebenswirklichkeit. Trotzdem wollte ich nicht ablassen von den abendlichen Wanderungen, wollte die inneren Bilder mithilfe der äußeren immer wieder befeuern, auf dass meiner Traumwelt nicht die Puste ausging. Ansonsten kam früher oder später unweigerlich das Erwachen – und das war stets ein Jammertal…
Eine Veränderung des Lichtes schreckte mich aus meinen Gedanken, eine minimale Verdunkelung. ‚Wolken‘, war mein erster Gedanke. Prüfend ließ ich den Blick über den Himmel wandern, bis zu den Bergketten am hinteren Ende des Tals – nein, es war noch so klar wie bei meiner Ankunft gegen Mittag. Erst nach einigen Sekunden sah ich es: Die Nebelbank über der Bucht – sie hatte sich ein gutes Stück auf die Küste zu geschoben. Auch eine kühle Brise ließ sich jetzt wahrnehmen, die nur von dort kommen konnte. Der Strand indes hatte sich weitestgehend geleert, auch der Trubel hier auf der Promenade war merklich abgeflaut.
Ich beschloss, nicht mehr bis Sonnenuntergang mit meiner Tour zu warten. Kurzerhand packte ich zusammen, nahm den Rucksack auf die Schultern und marschierte los. In der Altstadt fand ich ohne Probleme die kopfsteingepflasterte Gasse, die laut Reiseführer zur Aussichtsplattform führte. Niemand war hier mehr unterwegs. Saßen bereits alle beim Abendbrot? Oder hing es womöglich mit dem Phänomen draußen in der Bucht zusammen, diesem ungewöhnlich dichten Nebel, dem kühlen Luftstrom, den er aussandte? Die leicht beängstigende Vorstellung überkam mich, dass die Leute etwas wussten, das ich nicht wusste, und sich rechtzeitig in Sicherheit gebracht hatten. War ich der einzige Ahnungslose, der noch im Freien herumlief? Aber das konnte bloß Unfug sein.