
©Bild: Madpack, CC BY-SA 3.0 https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0, via Wikimedia Commons
Kühle, feuchte Luft ließ mich frösteln. Fremdartige Gerüche wanderten durch die Straßen, nach Gewürzen, exotischen Speisen. Immer neue Gassen und Treppen tauchten auf, schmal, glitschig-feucht, ins Ungewisse führend. Kinder spielten in den Hinterhöfen, rannten umher, riefen sich Sätze in einer unbekannten Sprache zu. Kehlig und abgehackt klangen die Laute, als würden sie nur aus Konsonanten bestehen. Vor den Häusern saßen alte Männer stumm in Grüppchen zusammen und blickten mir aus sonnengegerbten Gesichtern nach. Katzen huschten über Treppen und Mauersimse, kletterten auf Balkone, verschwanden in offenen Fenstern.
Eine Aufschrift über einem Laden weckte mein Interesse: Die Buchstaben wirkten weder kyrillisch noch griechisch, erinnerten eher an eine Art Keilschrift. Mein Reiseführer hatte die alte Inselsprache erwähnt, aber von einem eigenen Alphabet war, soweit ich es erinnerte, nirgends die Rede gewesen. Und nun sprangen sie mir überall ins Auge, die fremdartigen, archaischen Lettern: auf Straßenschildern, in Schaufenstern, über Ladentüren.
Vor einem Kiosk entdeckte ich einen hölzernen Aufsteller mit Ansichtskarten. Sie zeigten unberührte Berglandschaften, einsame, zerklüftete Küstenlinien, idyllische Fischerdörfchen. Die Häfen gehörten noch den einheimischen Fischerbooten anstatt protzigen Segel- und Motorjachten, wie ich deren vorhin zuhauf hatte. Nirgends fanden sich die üblichen, gesichtslosen Hotelbunker; auch die von Menschenmassen bedeckten Strände suchte man vergeblich. Seltsam unnatürlich und grell wirkten die Farben der Motive, ein bisschen wie auf alten, händisch nachkolorierten Filmplakaten. Wer so etwas wohl kaufte? Außer mir schienen sich keine Touristen in diesen Teil des Ortes verirrt zu haben. Die wenigen Menschen ringsherum wirkten wie Einheimische: dunkelhäutig, einfach gekleidet, ihr kryptischen Kauderwelsch miteinander redend.
Das Merkwürdigste aber war, dass mir diese antiquierten Postkarten bekannt erschienen. Wo und wann ich so etwas bereits gesehen? Es wollte mir nicht einfallen.
Eine Sturmbö fegte durch die Straßen; am Himmel leuchtete es erneut grell auf. In welcher Richtung konnte der Hafen liegen? Nichts war auszumachen, das ich vom Hinweg kannte, kein Gebäude, kein Platz, kein Straßenzug. Selbst die Aussichtsplattform, vorhin noch ein zuverlässiger Orientierungspunkt, war verschwunden. Völlig planlos rannte ich durchs Wirrwarr der Gassen, stolperte über dunkle Treppen, kam in Hinterhöfe, wo aufgehängte Wäsche geisterhaft im Wind flatterte.
Dann stand ich auf einmal in gleißender Helligkeit; das Summen zahlloser Stimmen erfüllte die Luft, man spürte eine starke Anspannung. Erst nach einer Weile erkannte ich, dass ringsherum die Ränge eines Amphitheaters in die Höhe stiegen, überall dicht besetzt mit Menschen. Alle starrten gebannt in den Himmel, es schien, als wolle man gemeinsam das nahende Unwetter beobachten. Dann aber begriff ich, was die Leute so fesselte: Dort oben schwebte eine Gestalt durchs Nichts.
Das Seil unter den Füßen des Wagemutigen war nahezu unsichtbar, ein Spinnfaden bloß, eine hauchdünne Fiber. Immer wieder peitschten Windstöße heran und wollten den Akrobaten mit sich reißen, aber er wandelte weiter über den Abgrund, zögernd, tastend, schwankend. Der Anblick war faszinierend – und gespenstisch, denn mir schien, als würde ich den Menschen kennen, der da oben Wetter und Schwerkraft trotzte. Obwohl die Entfernung eigentlich viel zu groß war. Und doch…
Die ersten Regentropfen weckten mich aus meiner Trance. Mochten all diese Leute auch stoisch das Wetter ignorieren – ich wollte nicht bis auf die Haut durchnässt werden. Erneut begann das Herumirren. Meine Güte – so groß konnte dieser Ort doch unmöglich sein, dass man partout nicht zum Hafen zurückfand!
Plötzlich rannte ich fast in jemanden hinein; nur äußerst knapp ließ sich ein Aufprall verhindern. Eine Frau schaute mich an, offenbar genauso erschrocken wie ich selbst. Dann aber entspannte sich ihr Gesichtsausdruck, ein Lächeln wurde sichtbar. „Puis-je vous aider?“ fragte sie.
Als ich sie französisch sprechen hörte, löste sich meine innere Anspannung mit einem Schlag. Es war, als sei ich plötzlich in die normale Welt zurückgekehrt.
„May I help you?“, wiederholte sie ihre Frage auf Englisch. „Are you okay?“
„I’m fine, thank you“, antwortete ich schnell und versuchte ebenfalls zu lächeln. Noch immer befand ich mich im anderen, unbekannten Porto d’Arreccio, wie der Anblick der verwitterten Häuser und der fremdartigen Lettern auf den Ladenschildern bewies. „Ich bin nur gerade etwas überfordert“, sprach ich auf Englisch weiter. „Ich finde einfach den Weg zum Hafen nicht.“
Neue Blitze flammten auf, heftiges Donnerkrachen folgte, und dann öffneten sich die Schleusen des Himmels. Ein wahrer Monsun ging nieder, in Sekundenschnelle bildeten sich auf dem abschüssigen Pflaster Sturzbäche aus Regenwasser.
„Schnell, da hinein!“ Sie wies auf eine Gastwirtschaft direkt neben uns und zog mich hinter sich her durch die Tür. Ein bogenförmiger, mit Troddeln verhängter Durchgang führte in den Schankraum. Hinter der mit roter Ölfarbe gestrichenen Theke war ein Wirt dabei, Gläser zu putzen, ein ungewöhnlich großer, athletisch gebauter Mittdreißiger mit dunklen, kurz geschnittenen Locken und einer höckrigen Nase. Schwarze Augen unter buschigen Brauen funkelten uns misstrauisch entgegen. Die knochigen, sorgfältig rasierten Wangen schimmerten matt, unter einem lässig gebundenen Tuch lugte ein sehniger Hals hervor. Es fiel kein Wort der Begrüßung.
An einem Ecktisch saß ein Grüppchen alter Männer. Gerade noch in ihr Gespräch vertieft, erstarrten sie auf einmal. Es schien mir sogar, als würden sie beim Anblick meiner Begleiterin erschrocken zusammenfahren. Wir setzten uns an einen der Nachbartische. Die Wachstuchdecke fühlte sich klebrig an, eine altertümliche Stehlampe in der Ecke verbreitete schummriges Zwielicht. Der geöffnete Flügel eines Sprossenfensters bewegte sich im Luftzug hin und her, draußen hörte man den Regen rauschen.
Die Frau trocknete ihre große, etwas unmodern wirkende Brille mit einem Tuch ab und setzte sie wieder auf. Als sie die Unterarme vor sich verschränkte, erkannte ich dunklen Flaum darauf, wie oft bei Frauen südländischen Typs. Ich fand es zu herb, zu wenig weiblich – aber vielleicht war das eine sehr nordeuropäische Wahrnehmung.
„Glück gehabt“, sagte sie, wieder ins Französische wechselnd. Sie war schlank und musste ungefähr in meinem Alter sein. Ihr dunkles Haar trug sie kurz geschnitten, allerdings wirkte die Frisur etwas altbacken und langweilig, zumal in Kombination mit der unmodernen Brille. „Am besten warten wir hier, bis der Regen aufhört. Dann begleite ich Sie zum Hafen. Sie waren eigentlich schon ganz nahe dran.“
Das überraschte mich. Hätte ich dann nicht Musik und Lärm hören, die Lichter des Festes sehen müssen?
Der Wirt kam mit einem Tablett, auf dem eine Flasche Wein und zwei Gläser standen. Wortlos stellte er die Sachen auf unseren Tisch und schlurfte wieder davon. Dabei hatten wir noch gar nicht bestellt. Möglicherweise gab es den Wein hier gratis, wie anderswo Wasser. Sie nahm den Krug und goss uns ein. Bei den Gläsern handelte es sich um normale Haushaltsgläser; immerhin schienen sie sauber zu sein. Wir prosteten uns zu. Als ich fühlte, wie die Flüssigkeit sich warm in mir ausbreitete, wurde ich etwas ruhiger.
„Sind Sie von hier?“, fragte ich in meinem holprigen Französisch.
Sie nickte. „Zwar lebe ich inzwischen in Paris, aber ich komme so oft wie möglich auf die Insel zurück.“
Ihr Name war Vivienne. Den Nachnamen verstand ich nicht richtig, nur dass er mit „Mont“ begann. Noch immer fühlte ich mich äußerst benommen nach dieser Kette von Erlebnissen und konnte mich nur schlecht konzentrieren. Trotzdem wollte ich, dass ein Gespräch zwischen uns zustande kam.
„Marc“, stellte ich mich vor, „Marc Simon.“
Sie wiederholte die Worte mit französischem Akzent, sprach das „Marc“ mit verstärktem „r“ aus und betonte im „Simon“ die zweite Silbe, ließ sie in jenem Nasallaut enden, der so typisch für das Französische ist und den Deutschen in der Regel nur schlecht gelingt. Es war ungewohnt, den eigenen Namen in dieser Aussprache zu hören. Aber sehr sympathisch.
Sie war Juristin, an der Pariser Sciènes Po. Erst nach einer Weile begriff ich, dass sie die berühmte École des Sciènes Politiques meinte. Wenn sie dort arbeitete, musste sie eine Koryphäe ihres Fachs sein. „Aber nein!“ Sie winkte ab. „Ich war einfach bloß im richtigen Moment zur Stelle, als Leute für ein Forschungsprojekt gesucht wurden.“
Dass ihre Position eine solche Ehrfurcht bei mir hervorrief, schien Vivienne unangenehm zu sein. Rasch wechselte sie das Thema: „Sie machen sicher Urlaub hier, oder? Deutscher?“
„Woran merkt man das?“, fragte ich neugierig.
„Man hört es am Akzent. Aber die meisten Deutschen erkennt man schnell. Sie schauen permanent in ihre Pläne und Reiseführer, wirken immer etwas unbeholfen. So wie Sie gerade eben.“ Wieder lächelte sie mich an.
Ich spürte, wie ich verlegen wurde. Mein Kopf leerte sich, und sicher würde mir wieder nur eine langweilige, unpassende Antwort einfallen, wie stes in solchen Situationen… dann aber spürte ich eine merkwürdige, ungewohnte Entspanntheit. Ich sah mich selbst durch den Ort stolpern, suchend, irritiert, hilflos – und musste unwillkürlich lachen. Lag es am Wein?
Die Flasche war schnell leer; kurzerhand ließen wir eine neue kommen. Wir gingen bald zum „Du“ über. Als meine französischen Vokabeln rar wurden, sprach ich einfach auf Englisch weiter. Schließlich stellte auch Vivienne die unvermeidliche Frage nach meinem Job. Ich druckste herum. Referent in einer Bibliothek… verglichen mit ihrem erschien mir mein eigener beruflicher Werdegang völlig belanglos. Aber als ich mit der bitteren Wahrheit herausrückte, zeigte sie überraschenderweise keine Spur von Geringschätzung, im Gegenteil: Sie wirkte interessiert, gestand, dass sie kaum etwas über die Abläufe in Fachbibliotheken wisse. Richtig lebhaft wurde sie, als ich mein Studium erwähnte, „Political Sciences“. Sie fragte nach Studienschwerpunkten, Professoren, dem Thema meiner Abschlussarbeit und dergleichen mehr. Je hartnäckiger sie bohrte, desto mehr löste sich meine Zunge. Ich hatte seit Ewigkeiten nicht mehr über mein Studium gesprochen; auf einmal erschien mir das damals Gelernte und Erarbeitete in einem anderen, interessanteren Licht.
Immer wieder gingen mir während des Gesprächs die heutigen Ereignisse durch den Kopf, vor allem der Aufstieg zum Felsplateau und die anschließende Flucht, schließlich mein Herumirren in diesem fremden Porto d’Arreccio. Und jetzt saß ich hier mit einer Frau, zum ersten Mal seit Ewigkeiten. An einem einzigen Tag war so viel geschehen wie vorher in langen Jahren nicht. Weshalb nur hatte ich solche Furcht vorm Betreten dieses Ortes gehabt?
„Wenn Du von hier bist“, fragte ich Vivienne, „sprichst Du dann eigentlich die alte Inselsprache?“
Sie schwieg, wirkte überrascht. Plötzlich gab sie einige dunkle, kehlige Laute von sich, die immer wieder in Zischen übergingen, manchmal fast knurrend klangen. Mir lief unwillkürlich ein Schauer über den Rücken.
Einen Augenblick war es fast vollkommen still im Raum. Dann brach sie den Bann, indem sie mit normaler Stimme auf Englisch weitersprach: „Jeder, der von hier kommt, spricht die Sprache der Insel. Was hast Du gedacht?“ Sie lachte, schaute mich aufmunternd an.
„Der Regen hat aufgehört“, sagte sie. „Wir sollten zum Hafen hinuntergehen.“
Ihr Tonfall war nicht bestimmend gewesen und ließ dennoch keinen Gedanken an Widerrede aufkommen. Auf dem Weg zur Tür bemerkte ich wieder die alten Männer an ihrem Ecktisch. Die ganze Zeit hatten sie kein Wort gesprochen, auch jetzt hielten sie ihre Blicke gesenkt – es wirkte fast demütig.
„Die Luft ist rein“, verkündete Vivienne von draußen. Ich wollte ihr folgen, aber dann fiel mir ein, dass die Zeche noch offen war. Unschlüssig schaute ich zum Wirt: Er war wieder ins Putzen seiner Gläser vertieft und schenkte mir keinerlei Beachtung. Rechnete er nicht damit, bezahlt zu werden?
„Worauf wartest du?“, hörte ich Viviennes Stimme.
Es schien wohl seine Richtigkeit zu haben. Ich wandte mich um und verließ das Lokal. Draußen schlug mir überraschend kühle, angenehme Luft entgegen. Inzwischen war die Nacht hereingebrochen. Das spärliche Licht schien ausschließlich aus den wenigen beleuchteten Fenstern zu kommen; Straßenlaternen konnte ich nirgends entdecken. Noch immer fegten einzelne Böen durch die Straßen, aber der Sturm hatte sich gelegt.
Wir waren gerade ein paar Minuten gegangen, als man zwischen den Hauswänden das Wasser funkeln sah. „Et voilà.“, meinte Vivienne. „Findest du den Weg jetzt allein?“
Wir sahen uns etwas unschlüssig an. Erneut fiel mir auf, wie schlecht ihr die altmodische Brille und der Haarschnitt zu Gesicht standen. Dennoch war etwas Anziehendes an ihr.
„Vielleicht trifft man sich noch mal auf der Insel“, begann ich unsicher.
„Ja, vielleicht.“
Alles würde gleich zu Ende sein. Sollte ich sie nach ihrer Telefonnummer fragen? Oder war das zu dreist? Und wenn ich ihr meine gab? Ich zögerte, brachte es einfach nicht heraus.
Dann war die Chance vorüber. „See you“, sagte ich mit fester Stimme und reichte ihr die Hand. Sie drückte sie kurz. „Au révoir“, erwiderte sie.
Eilig drehte ich mich um, ging zwischen den Häusern hindurch und stand plötzlich im Licht des Hafenpiers. Einen Augenblick war ich wie geblendet von der Helligkeit. Ich schaute zurück, sah Vivienne noch immer im Halbdunkel des Torbogens stehen. Sie winkte ein letztes Mal, drehte sich um und verschwand.
Kurz überlegte ich, umzukehren und ihr zu folgen. Und bezweifelte plötzlich, dass das möglich war. Würde ich sie jemals erreichen? Existierten die verwitterten Häuser, die ich dort zu sehen glaubte, überhaupt? Immer blasser und verschwommener wurde das Bild der fleckigen Mauern, der engen, unbeleuchteten Gassen, der finsteren Treppen – bis fast nichts mehr zu erkennen war. Schließlich wandte ich mich ab, verwirrt und mit dem unangenehmen Gefühl, gerade eine wichtige Chance verpasst zu haben…
Das Hafenfest musste lange vorbei sein. Auf den Terrassen der Lokale waren die Möbel zusammengestellt, die Tischplatten nass vom Regen. Piers und Strandpromenade lagen verwaist da, sämtliche Läden hatten geschlossen. Wasserlachen zierten den Asphalt, Wellen schlugen in rascher Folge gegen die Kaimauer, man hörte das Tacktack der Schiffstakelagen.
Auf dem Weg zum Busbahnhof begegneten mir fast keine Leute. Wie hell hier überall die Straßenbeleuchtung strahlte – kein Vergleich zum Dämmerlicht in jenem anderen Porto d’Arreccio! Ich suchte nach Aufschriften in den fremden Buchstaben, aber vergeblich: Man sah überall nur französisch, englisch, manchmal deutsch.
Kaum erreichte ich die Haltestelle, da schnaufte auch schon der klapprige Bus heran, pünktlich auf die Minute. Ich war der einzige Fahrgast, der um diese Zeit noch zurückwollte nach Plage d’Aiola.