11. Ins Licht

Als ich die Augen aufschlug, war es noch dunkel. Die schwere Brandung hatte sich gelegt. Man hörte die Wellen gemächlich heranrollen, auf den Strand schlagen und ins Meer zurückfließen – es klang wie ruhiges, regelmäßiges Atmen. Die Wolkendecke war aufgerissen, eine Handvoll Sterne glitzerte am Himmel.

Meine Erinnerungen an Lennard waren jetzt intensiver denn je. Vor allem die erste Begegnung mit ihm ging mir immer wieder durch den Kopf, zu Beginn des Studiums, in Münster. Dieses Zusammentreffen war denkbar unauffällig gewesen; nie hätte ich seinerzeit geglaubt, dass etwas so Wichtiges daraus entstehen würde, etwas derart Essentielles…

Münster – hierhin hatte es mich nach dem Abitur verschlagen, zum Ableisten meines Zivildienstes. Bis zum Wehrerfassungsbescheid hatte ich mir keinerlei Gedanken über ein Leben nach der Schule gemacht. Erst als dieses offiziell wirkende Schreiben zu Hause eintrudelte, mit meinem Namen im Briefkopf, dämmerte mir, dass sich demnächst vieles ändern würde. Schließlich rang ich mich zur Verweigerung durch, denn auf Wehrdienst hatte ich erst recht keine Lust. Fürs Finden einer Zivildienst-Stelle reichte meine Energie dann leider nicht mehr. Am Ende wurde mir ein Platz zugewiesen, in einer Münsteraner Altenhilfe-Einrichtung. Auch für Unterkunft war gesorgt, im angeschlossenen Personalwohnheim, wo ich ein Zimmerchen erhielt.

Der Start war äußerst mühsam, aber allmählich gewöhnte ich mich an die neue Situation, das regelmäßige Arbeiten, die Kollegen, das Teamwork. Die krasse Veränderung hatte sogar etwas Positives; sie befreite mich endlich aus der Paralyse der letzten Schuljahre. Ich begann wieder Leute zu treffen, ging gemeinsam mit anderen Zivis in die Kneipen der Umgebung, wir entdeckten die Münsteraner Studentenszene für uns. Es tat unendlich gut, wieder Menschen um sich zu haben, nicht mehr allein zu sein. Das Einzelgängertum entsprach eigentlich nicht meinem Naturell, in Wirklichkeit war ich immer ein Gesellschaftstyp gewesen, ein Teamplayer. Nur dieses Gefühl einer zunehmenden Entfremdung hatte mich so komplett in die Isolation getrieben. Davon war jetzt nicht mehr viel zu spüren, vermutlich weil die Leute hier anders waren als zu Hause, viel neugieriger, offener.

Nach dem Zivildienst blieb ich in Münster, begann an der dortigen Uni ein BWL-Studium. Ich plante, es mir komplett selbst zu finanzieren, über eine Tätigkeit als Honorarkraft in der Altenhilfe-Einrichtung und, falls der Verdienst nicht ausreichte, mithilfe weiterer Jobs. Von meinen Eltern wollte ich kein Geld mehr nehmen. Überhaupt hatte ich vor, sämtliche Verbindungen zur alten Heimat endgültig zu kappen. Wäre ich dort geblieben, das erkannte ich jetzt, hätte ich früher oder später resigniert und mich angepasst, aller Perspektivlosigkeit zum Trotz. Ich hätte wie die anderen Leute Sicherheit über alles gestellt und die Zeit damit verbracht, Gegenstände anzuhäufen, mich mit Konsum zu betäuben. Und schließlich selbst auf alle eingehackt, die es wagten, diese eintönige, sterile Lebensweise zu kritisieren. Aber nun hatte ich den Absprung geschafft – welch ein Segen!

Um die Lebenshaltungskosten niedrig zu halten, zog ich in ein Studentenwohnheim. Eine gute Entscheidung, auch jenseits des Finanziellen, wie sich bald herausstellte: Hier herrschte dieselbe Aufbruchsstimmung wie vorher mit den Zivis der Altenhilfe-Einrichtung. Man traf sich, ging zusammen aus, knüpfte Kontakte. Auch eine Hobby-Fußballgruppe gab es, an der ich mich beteiligte.

Eines Abends sprach mich in der Gemeinschaftsküche ein Typ an, Lennard. Er wohnte auf demselben Flur wie ich und studierte ebenfalls BWL. Schon jetzt, da das Semester gerade mal einige Wochen alt war, galten er und seine Leute als Instanzen des studentischen Nachtlebens. Auch auf verschiedenen Demos hatten sie sich bereits hervorgetan, durch auffällige Verkleidungen und Dekorationen. So waren sie, als es kürzlich gegen Rüstungsexporte ging, mit Gasmasken, Raketen aus Pappe und blutverschmierten Kreuzen aufgelaufen.

Dieser umtriebige Lennard suchte also das Gespräch mit mir. Tagsüber hatte ich mir in der VWL-Vorlesung einen Schlagabtausch mit dem Dozenten geliefert, zum Thema Schlanker Staat. Er, ein junger, reichlich schnöselhafter Strebertyp, war unbedingt dafür gewesen, ich vehement dagegen. Meine Hartnäckigkeit und die Stichhaltigkeit meiner Argumente hatten Lennard durchaus beeindruckt, wie er mir ohne Umschweife gestand. Ich fühlte mich natürlich geschmeichelt. Und war froh, dass man mir offenbar nicht angemerkt hatte, wie ich während des Disputs ins Schwitzen gekommen war. Denn natürlich hatte der Dozent viel mehr über das Thema gewusst als ich kleiner Erstsemester. Aber ich hatte nicht zurückstecken, mir keine Blöße geben wollen – und einen Erfolg in ganz anderer Hinsicht eingefahren, wie sich nun herausstellte.

An diesem ersten Abend wechselten Lennard und ich nur ein paar allgemeine Sätze, aber in der Folge kreuzten sich unsere Wege vermehrt. So saßen wir in der besagten Vorlesung jetzt oft nebeneinander, und irgendwann tauchte er sogar in meiner Übungsgruppe auf – er hatte mit einem Kommilitonen die Plätze getauscht. Auch in der Gemeinschaftsküche begegneten wir uns häufig, und jedes Mal entspann sich ein angeregtes Gespräch.

BWL studierte er, um später die Firma seiner Eltern zu übernehmen. Hierzu hatte er zwar nicht die geringste Lust, aber „der Alte“ bezahlte nun mal, und das wollte er so lange wie möglich ausnutzen. Was anschließend kam, wussten die Götter. Auskosten, mitnehmen, in vollen Zügen genießen – so wollte Lennard vor den anderen erscheinen. Der Leitwolf, der immer vorneweg ging. Keine wichtige Party, die ohne ihn stieg, kein angesagter Club, in dem er nicht Stammgast war, keine schöne Frau, die seinen Verführungskünsten widerstand. Und alle nahmen ihm dieses Bild ab, ließen sich einlullen von seiner natürlichen Begabung zur Selbstvermarktung, seinem Charme, seinem Witz.

Wozu gab sich ein solcher Star ausgerechnet mit mir ab? In der studentischen Szene war mein Marktwert eher gering. Ich kleidete mich unauffällig, verließ Partys meist zu früher Stunde, trank wenig und kiffte nie. Kurz: Ein Gesehen werden mit mir brachte Lennard schlicht nichts ein, keine gesteigerte Aufmerksamkeit, keinen zusätzlichen Respekt. Was also wollte er von mir?

Es lag wohl an dem, was er meine „philosophische Ader“ nannte. Unsere Treffen in der Wohnheimküche dauerten inzwischen oft bis nachts; unermüdlich diskutierten wir über gesellschaftliche, politische, kulturelle Themen. Wir wollten beide die Zusammenhänge verstehen, in denen unser Leben stattfand, wollten unseren Platz darin erkennen, unsere Determination. Auch schien ihm meine Unabhängigkeit von den Eltern einen gewissen Respekt abzunötigen. Eigentlich hätte er lieber Philosophie studiert, aber das wagte er nicht, weil ihm dann sofort der Geldhahn zugedreht worden wäre. Dergleichen brauchte mich nicht zu kümmern, bei Bedarf hätte ich jederzeit die Fächer wechseln können.

Eine Bemerkung, von Lennard während einer unserer nächtlichen Diskussionen beiläufig gemacht, beschrieb wohl am besten, worin er die Verbindung zwischen uns sah: „Wir beide“, hatte er gesagt und dabei die nächste Rotweinflasche entkorkt, „sind im Grunde Inseln. Isoliert, ohne Verbindung zur Außenwelt. Diesen Zustand können die meisten Menschen nicht aushalten, sie wollen sich lieber am Herdfeuer der Masse wärmen.“

Eine Insel… mich selbst konnte ich in diesem Bild durchaus wiedererkennen. Aber Lennard, der stets im Mittelpunkt des Geschehens stand, bei dem immer alle Fäden zusammenliefen, was sollte an ihm inselhaft sein? Trotzdem empfand ich seine Worte als Kompliment, besagten sie doch nichts anderes, als dass er uns auf einer Stufe sah, dass er nichts gab auf die studentische Rangordnung, in der wir so krass unterschiedliche Positionen belegten.

Das zweite Semester neigte sich dem Ende zu. Inzwischen überlegte ich tatsächlich, die Fächer zu wechseln. BWL – in dieser Wahl hatte unbewusst noch das Bestreben gesteckt, den Wünschen und Vorstellungen meiner Eltern zu genügen, mich in ihre Welt einzuordnen. Davon jedoch hatte ich mich längst freigemacht. Ich bewarb mich für den Magister-Studiengang in Politologie, mit Geschichte und Soziologie als Nebenfächer, und erhielt prompt einen Studienplatz zum kommenden Wintersemester. Als nach den Ferien die Vorlesungen wieder begannen, zeigte sich rasch, wie richtig auch diese Entscheidung gewesen war: Die neuen Fächer entsprachen viel eher dem, was mich interessierte und bewegte.

Währenddessen kündigte Lennard an, nach West-Berlin gehen zu wollen. In der Mauerstadt spielte zu jener Zeit die Musik: Demos, politische Aktionen, Hausbesetzungen, außerdem jede Menge Kultur. Ich nahm die Nachricht gelassen auf; sicher würden seine Eltern ihn wieder zurückpfeifen. Die aber schienen keine Einwände zu haben, solange ihr Stammhalter weiterhin brav BWL studierte. Als die ZVS Lennard auch noch den erhofften Platz an der Berliner TU zuwies, wurde mir unversehens flau. Erst jetzt realisierte ich, was sein Weggang für mich bedeuten würde. Unsere nächtlichen Küchengespräche waren mittlerweile ein Fixpunkt in meinem Leben, es gab weit und breit nichts, das sie hätte ersetzen können. Ein Gefühl eisiger Leere packte mich, das schlimmer war als alle Trostlosigkeit früherer Zeiten.

Umso größer war meine Verblüffung, als Lennard mich drängte, mitzukommen. Mehr noch: Er schlug vor, wir sollten in Berlin zusammen eine WG gründen. Dann hätten wir unsere eigene Küche zum Diskutieren, meinte er. Natürlich glaubte ich an einen Scherz. Der große Lennard und ich – in ein und derselben WG? Trotzdem fing ich zaghaft an, mich über die Studienmöglichkeiten in Berlin zu informieren – und stellte fest, dass vor allem an der FU das Lehrangebot schlicht ein Traum war. Und es gab keine Zulassungsbeschränkungen; ich konnte mich einfach einschreiben. Nach langem Zögern entschloss ich mich, das Undenkbare zu wagen.

Es ging also wirklich und wahrhaftig nach Berlin. Wir bezogen eine Zweizimmerwohnung in Kreuzberg, in der Nähe des Kottbusser Tors. Sie hatte bloß Ofenheizung und alte, einfach verglaste Sprossenfenster, die im Winter zentimeterdick zufroren. Dafür war sie unfassbar günstig, was Nachteile wie Kälte oder Durchzug aufwog. Auch in Sachen Job hatte ich Glück: Ich ergatterte eine recht gut bezahlte, unbefristete Hiwi-Stelle im Archiv der FU.

Wie von Lennard angekündigt setzten wir in Berlin unsere Diskussionsrunden fort, bei denen häufig auch andere Kommilitonen dabei waren. Umgekehrt ging ich mit zu Demos, Film- und Theaterveranstaltungen, nahm auch an diversen Kneipenabenden teil. Zum ersten Mal hatte ich das Gefühl, wirklich dazuzugehören, in echter Verbindung zu stehen mit den Menschen um mich herum. Und das alles nur dank Lennard; ohne ihn hätte sich mir diese neue, aufregende Welt nie und nimmer erschlossen.

Auf der Einweihungsparty eines Kommilitonen traf ich Alexandra zum ersten Mal. Ich fand es sympathisch, dass sie offenbar nicht bloß „abcheckte“, wie die meisten anderen, sondern tatsächlich eine Unterhaltung mit mir führen, mich kennen lernen wollte. Sie studierte Jura, ebenfalls an der FU, und war der jüngste Spross einer alteingesessenen Hamburger Reeder-Dynastie, den von Fehrens. Aber Alexandra wollte so gar nicht in dieses großbürgerliche Milieu passen: Sie engagierte sich leidenschaftlich bei der Roten Hilfe und belegte nebenbei Seminare im Bereich Frauen- und Geschlechterforschung.

Rasch entwickelte sich zwischen uns eine rege Bekanntschaft. Wir hatten viele gemeinsame Interessen, lasen dieselben Bücher, fühlten uns beide als Außenseiter; die Übereinstimmungen waren teilweise frappant. Alexandra gegenüber konnte ich ungezwungen meine Meinung äußern, selbst wenn diese von den gängigen, linken Standards abwich, was durchaus vorkam. Normalerweise gab es in solchen Fällen großes Geschrei, Verratsvorwürfe, Ermahnungen zu politischer Korrektheit. Nicht so bei Alexandra – ihr Interesse wurde gerade durch das Nicht-Konforme, Unangepasste geweckt und angestachelt. Zwar stellte sie während unserer Diskussionen viele Fragen, erhob Einwände, entwickelte Gegenthesen, aber alles blieb sachlich, immer war sie neugierig auf meine Antworten, auf ungehörte Argumente. Und für mich stand umgekehrt am Ende oft eine Erkenntnis, ein Revidieren vermeintlich feststehender Ansichten, eine Weiterentwicklung von Ideen.

Äußerlich hatte Alexandra rein gar nichts Anziehendes. Die unvorteilhaften Klamotten – lange, sackartige T-Shirts, wallende Batik-Röcke oder Bundeswehrhosen mit ausladenden Seitentaschen –, verdeckten ihre Körperformen zur Gänze. Ihr spitznasiges, hohlwangiges Gesicht wirkte ziemlich streng; manchmal blitzte gar etwas Oberlehrerhaftes darin auf. Einzig ihr langes, blondes Haar war klassisch weiblich. Es mochte ein Klischee sein, dass langweilige, unattraktive Frauen es am ehesten schafften, aus dem traditionellen Rollenmodell auszubrechen – auf Alexandra jedenfalls traf es zu. Mir war es nur recht; umso sicherer konnte ich sein, dass der Kontakt zwischen uns nicht übers Platonische hinausging.

Denn ich wollte lieber allein bleiben. In dieser Hinsicht war ich das genaue Gegenteil aller Leute in meinem Bekanntenkreis. Vor allem Lennard konnte in Sachen Frauen einen geradezu manischen Ehrgeiz entwickeln. Seine Eroberungen waren allesamt vom Typ modebewusster, ehrgeiziger Vamp. Girls, die sogar noch stylish aussahen, wenn sie morgens zerknautscht und notdürftig in irgendwelche Plünnen gehüllt in der WG-Küche hockten. Dementsprechend wenig wusste er mit Alexandra anzufangen; er fand sie schlicht „abtörnend“. Aber natürlich betrachtete er die Sache in erster Linie von der erotischen Seite.

Die Dinge entwickelten sich also gut für mich in Berlin.

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