
Hätte ich Lennard doch nur mein Herz ausschütten, ihm gestehen können, wie eingeengt ich mich durch Alexandra fühlte! Allerdings wäre bei dieser Art Geständnis auch deutlich geworden, welch jämmerliche Figur ich selbst in dem Spiel abgab: Für ein bisschen Sicherheit verzichtete er auf jegliche Freiheit. Deshalb verkniff ich mir meine Beichte jedes Mal.
Immer mehr verschwand Lennard aus meinem Gesichtskreis. Am ehesten begegnete ich ihm jetzt noch in der Cafeteria Garystraße; einige seiner Seminare wurden an der FU durchgeführt, deren Fachbereich Wirtschaftswissenschaften in der Nähe lag. Meistens saß er allein an einem der Bistrotische, zusammengesunken, den Blick nach unten gerichtet. Wenn wir sprachen, hörte er kaum zu, antwortete nur in kurzen, knappen Sätzen. Er wirkte, als hätte er sich am liebsten verkrochen, versteckt vor der Welt. Konnte das angehen? Er, der immer so gern im Rampenlicht gestanden hatte?
Aber es ließ sich nicht leugnen: Vom selbstbewussten Sonnyboy der Anfangszeit, der überall mitmischte, dem die Frauen zu Füßen lagen, war nicht mehr viel übrig. Mittlerweile dachte ich bei Lennards Anblick – es tat weh, sich das einzugestehen – an einen Schauspieler nach Ende der Vorstellung: Das Licht war erloschen, die Maske gefallen, das einnehmende, verführerische Lächeln des Helden verschwunden. Stattdessen kam eine erschöpfte, von Frust und Zynismus gezeichnete Visage zum Vorschein.
Woher rührte diese drastische Veränderung? Lag es wirklich nur an seiner Freundin, die ihn verlassen hatte? Konnte ein solches Ereignis jemanden derart erschüttern? Noch dazu jemanden wie Lennard? Oder war da mehr im Spiel?
Eines Nachmittags wurde er in der Cafeteria ungewohnt deutlich. Alexandra, meinte er, würde mich total vereinnahmen. Ich solle, verdammt noch mal, den Arsch hoch kriegen und endlich wieder auf eigenen Füßen stehen! Ein Gefühl der Bloßstellung, der totalen Demütigung breitete sich quälend in mir aus. Und sofort kam der Abwehrreflex, wollte ich alles leugnen, in ein anderes Licht stellen – bis ich kapierte: Er hatte schlicht und ergreifend recht. Ich musste endlich selbst wieder aktiv werden, anstatt Alexandra permanent die Initiative zu überlassen. Erst recht jetzt, da es Lennard so dreckig ging. Offenbar belastete ihn seine Trennung ziemlich, da war es doch geradezu meine Pflicht, ihn zu unterstützen, ihm zur Seite zu stehen. Schlagartig wurde mir einiges klar in diesem Augenblick. Nein, ich durfte mich nicht länger meiner Bequemlichkeit überlassen, meiner Angst vor dem Draußen. Der Zeitpunkt war gekommen, Alexandra endlich Kontra zu geben!
Aber was, wenn sie dann Schluss machte? Was kam nach ihr? Sollte ich wieder in meine alte Rolle schlüpfen und den anderen Leuten jemanden vorspielen, der ich nicht war? Geriet ich womöglich in völlige Isolation, wie zu Schulzeiten? Heftiges Frösteln überkam mich bei diesem Gedanken. War es nicht doch klüger, den Mund zu halten, anstatt das Gegebene zu gefährden, es möglicherweise ganz zu verspielen durch Launenhaftigkeit und Eigensinn? Sicher, die Situation hatte ihre Nachteile, aber im Großen und Ganzen…
Lennard schien meine Gedanken zu erraten: Plötzlich sprang er auf, der Stuhl kippte laut polternd hinter ihm um. „Mensch, wie kann man seine Seele verkaufen, bloß um ’s warm und gemütlich zu haben?“, brüllte er und starrte mich aus großen, seltsam traurigen Augen an. Seine Lippen zitterten leicht. Dass die Leute an den umliegenden Tischen zu uns herüberschauten, interessierte ihn nicht.
Mir war der Schrecken in die Glieder gefahren. Zusammengefaltet wie ein Schuljunge saß ich dort, stammelnd, nach Worten suchend. Aber sein Gesicht entspannte sich bereits wieder. Ein Mundwinkel zog sich in die Höhe, das altbekannte, überlegene, fast verächtliche Lächeln kehrte zurück. „Wir sehen uns“, meinte er, stellte den Stuhl wieder hin und ging. Sein Tablett mit dem halbvollen Getränk und dem angenagten Snack stand noch auf dem Tisch. Ich dachte, er würde sich vielleicht einen Kaffee holen. Aber er kam nicht mehr zurück.
Natürlich blieben Alexandra und ich zusammen, lebten weiterhin in unserem Schöneberger Refugium, während draußen die Monate hinschwanden. Irgendwann hatten wir unsere Abschlüsse in der Tasche: sie ihr Staatsexamen, ich meinen Magister. Und jetzt? Seit Münsteraner Zeiten hatte ich mich nicht mehr mit Themen wie Karriere und Lebensplanung befasst. Die wenigen Semester BWL zu Beginn des Studiums waren noch ganz auf die berufliche Sphäre ausgerichtet gewesen, aber seit dem Wechsel zur Politologie ging es mir vor allem um Selbstverwirklichung. Und so hatte ich, anders als die meisten meiner Kommilitonen, während der ganzen Studienzeit kein einziges Firmenpraktikum absolviert, kein Volontariat bei irgendeinem Medium, einer Zeitung oder einem Sender. Mit anderen Worten: Ich konnte null Arbeitserfahrung vorweisen, abgesehen von meinem Zivildienst und dem Archiv-Job. Letzterer war übrigens an meinen Studentenstatus geknüpft; mit der Exmatrikulation würden sich dort für mich die Tore schließen. Dementsprechend düster waren die Aussichten. Pflege-Hilfskraft, Taxischein oder Sozialamt – so lauteten meine Optionen.
Lennard hatte ich seit der Szene in der Cafeteria nicht mehr gesehen. Ich vermutete, dass er in seine Diplomarbeit vertieft war und für die Abschlussprüfungen paukte. Umso erstaunter war ich, als eines Tages seine Urlaubskarte eintrudelte. Ein gemeinsamer Bekannter, den ich zufällig traf, erzählte mir von dem Europa-Trip. Sie waren zu fünft durch den Kontinent getourt, hatten auf verschiedenen Mittelmeerinseln Station gemacht und eine entspannte Zeit gehabt. Dann war Lennard völlig unerwartet auf eigene Faust weitergereist. Angeblich hatte ihn eine bestimmte Insel magisch angezogen. Er wollte dort „unentdecktes Land erforschen“ – das waren nach Aussage des Bekannten seine Worte zum Abschied gewesen.
Die nächste Überraschung kam beim Versuch, ihn telefonisch zu erreichen: Seinen Anschluss gab es nicht mehr; die Auskunft konnte mir keine neue Nummer nennen. Seine Ex, die ich auf dem TU-Campus traf, hatte Lennard seit Monaten nicht gesehen, auch sonst wusste niemand, wo er steckte. Was war mit ihm geschehen? „Zu finden, wonach ich schon so lange suche“ – hatte wirklich er das geschrieben? Dazu Wendungen wie „unentdecktes Land erforschen“ – der coole, selbstsichere Lennard und solch gefühliges, fast esoterisches Geschwurbel? Auf einmal wurde mir klar, wie fremd wir uns zuletzt geworden waren. Im Grunde wusste ich nicht mehr viel über ihn. Und daran war ich selbst schuld, hatte ich doch im Lauf der Zeit jegliche Initiative abgegeben und anderen Leuten das Kommando überlassen. Bald würde alles Wichtige, Eigene aus meinem Leben verschwunden sein; die Luft wurde immer dünner.
Und wenn ich selbst auf diese ominöse Insel reiste und versuchte, Lennard aufzustöbern? Die Idee faszinierte mich. Wenn ich ihn erst gefunden hatte, würde vielleicht das alte Gefühl der Zusammengehörigkeit wieder aufleben. Ich musste vergessen, wie es zuletzt zwischen uns gelaufen war, die wachsende Entfremdung, seine Vorwürfe, die Tatsache, dass ich ihm in seiner Krise nicht geholfen hatte. Je länger ich über alles nachdachte, desto größer wurde meine Entschlossenheit. Ich würde ihn um Entschuldigung bitten, alles konnte noch gut werden. Erst jetzt spürte ich, wie sehr mein Gewissen mich quälte, die ganze Zeit schon. Wie bedrückend dieses Gefühl war, ihn in schweren Zeiten allein gelassen zu haben.
Ich ging ins Reisebüro und erkundigte mich nach Flügen, machte mich ernsthaft an die Planung. Warum sollte ich es nicht einfach wagen? Was gab es zu verlieren? Alexandra konnte hier in Berlin gut einige Zeit ohne mich auskommen. Und falls ihr meine Pläne nicht passten, falls sie irgendetwas daran auszusetzen hatte, dann…
Dann kam der Brief aus Hamburg, abgesendet von Alexandras Vater. Dessen Bekannter leitete an der dortigen Universität ein juristisches Forschungsprojekt, hochdotiert und für großes Aufsehen in der internationalen Fachwelt sorgend. Zurzeit suchte er händeringend einen tüchtigen Assistenten oder zur Not auch eine Assistentin.
Als sie mir den Brief zeigte, brachte Alexandra kaum einen zusammenhängenden Satz heraus, so aufgewühlt war sie. Natürlich riet ich ihr, sofort zuzusagen: Diese Super-Gelegenheit dürfe sie keinesfalls ausschlagen, auf mich solle sie dabei keine Rücksicht nehmen, ich käme schon irgendwie zurecht. Insgeheim spekulierte ich darauf, dass sie allein nach Hamburg zog und dadurch gezwungen war, mir meine Freiheit zurückzugeben.
Alexandra, sichtlich bewegt von meiner scheinbaren Selbstlosigkeit, gestand, dass sie das Angebot bereits angenommen hatte. Ich jubelte innerlich schon auf, da erwähnte sie, quasi wie eine Petitesse, dass ihr Vater auch in meiner Sache tätig geworden war: Anstellung als Referent in der Hamburger Staatsbibliothek, Zweijahresvertrag, höherer Dienst, Aussicht auf Entfristung und spätere Verbeamtung. Für sie war es klar, dass wir in jedem Fall zusammenbleiben würden, so oder so.
Welch perfide Situation! Zum ersten Mal seit langem plante ich eine eigene Unternehmung, entwickelte wieder etwas wie Eigeninitiative. Und plötzlich bot sich diese reelle berufliche Perspektive, nach all den Jahren der Ziellosigkeit. Endlich „richtig“ angestellt sein, den Status der ewigen Hilfskraft ablegen, sicheres Gehalt, konkrete Aufstiegschancen…
Während ich die nächste Zeit damit zubrachte, das Für und Wider beider Möglichkeiten abzuwägen, schuf Alexandra eifrig Fakten. Sie beauftragte in Hamburg einen Makler mit der Wohnungssuche, einen Freund der Familie. Für den Möbeltransport engagierte sie ein Umzugskollektiv, das sie über die Rote Hilfe kannte. Ich grübelte und hing fixen Ideen an, sie dagegen studierte Wohnungsexposés und faltete Umzugskartons. Es war, als stünde ich auf einer Eisscholle, die immer weiter schmolz, während Alexandra nebenan im Rettungsboot saß und geduldig wartete, bis ich einsichtig wurde. Schließlich hatten sich meine Argumente verflüchtigt, war die Eisscholle komplett weg. Ich sprang zu ihr ins Boot, das in diesem Fall der Zug nach Hamburg war, und ab ging die Fahrt.
Die Sterne waren verblasst, über der See hellte es sich zusehends auf. Ein weiterer Tag brach an – der 22. meiner Reise. Ich griff erneut nach der vergilbten Karte. Mittlerweile war ich mir sicher, dass sie nicht unter denen gewesen war, die ich gestern in Porto d’Arreccio gesehen hatte. Es musste also noch andere Orte geben, wo man solche Ansichtskarten kaufen konnte…
Dann hatte ich eine gewagte Idee: Konnte Lennard vielleicht noch immer auf der Insel sein? Komplett unsinnig war das nicht: Falls er damals je wieder nach Berlin zurückgekehrt wäre, hätte er mich garantiert angerufen, auch nach meinem Wegzug. Sämtlichen Bekannten hatte ich unsere neue Hamburger Nummer dagelassen, hatte sie ihnen förmlich aufgedrängt. Aber das Telefon war all die Jahre still geblieben. Möglicherweise hatte Lennard sich dauerhaft hier niedergelassen und lebte ein ruhiges, zufriedenes Leben, scherte sich nicht mehr um die Welt dort draußen.
Was sprach dagegen, sich mal ein bisschen genauer umzuschauen? Doch noch jenes Projekt zu starten, das ich damals stillschweigend zu den Akten gelegt hatte? Vielleicht fand ich ja irgendwelche Hinweise oder Spuren…
Und wo sollte ich beginnen? An der Küste bestimmt nicht, so viel schien klar. Ferienorte wie Plage d’Aiola oder Porto d’Arreccio waren wohl kaum gemeint, wenn man verkündete, man wolle „unentdecktes Land erforschen“. Vermutlich hatte Lennard die Touristengebiete verlassen, war ins Innere aufgebrochen.
Dort musste ich nach ihm suchen.