14. Aufbruch

Der Hotelangestellte schob mir die Rechnung über den Tresen. Obwohl erst Dienstag war, musste ich noch bis zum Wochenende bezahlen. So kurzfristig hatten sich keine neuen Gäste mehr finden lassen, jetzt, da die Saison zu Ende ging. Der unnötige Geldabfluss schmerzte, aber von meinem Vorhaben würde er mich nicht mehr abbringen.

Vormittags hatte ich an einem der Hotel-Münzrechner im Internet recherchiert. Einige deutschsprachige Seiten bestätigten die Aussagen meines Reiseführers: Das Innere dieser Insel entvölkerte sich zusehends, vor allem die jungen Leute wanderten ab, in die Touristenzentren der Küste oder ganz aufs Festland, wo es Arbeit gab. Die Inselkarten schienen diese Darstellung zusätzlich zu untermauern: Je weiter von der Küste entfernt, desto geringer wurde die Dichte der Straßen und Ortschaften, bis in der Mitte schließlich grüne und graue Leerflächen das Bild dominierten – eine Art neuer Terra Ingognita bildete sich heraus. Mit dem Exodus der Menschen geriet auch das traditionelle Idiom immer mehr in Vergessenheit; es wurde nur noch in abgelegenen Bergregionen gesprochen, während ansonsten das Französische überwog.

Hinweise auf eine eigenständige Schrift fand ich allerdings keine, weder im Reiseführer noch im Internet. Ich wollte bei anderer Gelegenheit erneut nachforschen, mich zur Not auch durch die fremdsprachigen Seiten kämpfen. Aber dazu brauchte ich mehr Zeit. Mein Französisch war nicht besonders, und ich würde sicher oft nach Vokabeln suchen müssen.

Nachdem ich in Plage d’Aiola meine komplette Schmutzwäsche in eine Expressreinigung gegeben hatte, lief ich zum Ortsausgang, wo sich die Niederlassungen der verschiedenen Autoverleiher befanden. Meine Wahl fiel auf den Anbieter mit dem – laut Eigenwerbung – dichtesten Filialnetz der Insel. Während ich den Mietvertrag für einen Renault Twingo unterschrieb, bestätigte mir der Angestellte mit großer Geste, dass es überall Rückgabe-Stationen gäbe. Dann korrigierte er sich: Überall an der Küste gäbe es welche, genauer gesagt an der Süd- und Westküste. Sie seien alle auf der Rückseite des Vertrages abgedruckt, erklärte er eifrig und hielt das gewendete Papier in den Höhe.

Mein erstes Ziel mit dem frisch erworbenen Fahrzeug war die Reinigung, um dort die Wäsche abzuholen. Dann fuhr ich in den Ortskern, stellte den Wagen in der Kurzparkzone ab und betrat einen der Touristenläden, die sich hier aneinanderreihten. Ich kaufte einen Straßenplan im Maßstab 1:100.000 – genauere gab es leider nicht. Auf dem Rückweg zum Auto überflog ich vor den Läden die Drehsäulen mit Ansichtskarten: Immer nur weiße Strände, imposante Segelyachten, Hotelbunker hinter blauem, bewegtem Meer. Aufnahmen vom Hinterland – Fehlanzeige. Gab es dort jene kahlen, menschenleeren Felslandschaften, wie Lennards Karte sie zeigte? Existierte er wirklich, der einsame, komplett in Wolken gehüllte Berggipfel? Man erfuhr es nicht.

Und nun stand ich am Hoteltresen, den Rucksack auf den Schultern, neben mir den Rollkoffer, und beglich meine Rechnung. In einer Eingebung zog ich Lennards Karte heraus und zeigte sie den Angestellten. Zunächst ratlose Gesichter, dann begannen die drei lautstark auf französisch zu diskutieren. Einer glaubte im ersten Motiv Porto d’Arreccio wiederzuerkennen. Ein anderer widersprach: Es müsse sich um einen Ort im Osten handeln, wo die Insel bislang kaum touristisch erschlossen war. Sie stammten alle vom Festland, arbeiteten nur während der Saison hier. Von einer alten Sprache hätten sie wohl gehört, aber keiner unter ihnen verstand sie.

„Jacques!“, rief einer der drei. Er verschwand im Hinterzimmer und kam mit einem älteren, stoppelbärtigen Arbeiter im Schlepptau zurück. Ich kannte ihn, hatte ihn oft während des morgendlichen Wartens an der Poolbar das Areal fegen sehen. „Jacques ist von hier“, erklärte der Angestellte und sprach in schnellem, für mich unverständlichem Französisch auf den Alten ein.

Der schaute mich an, unsicher lächelnd. Ja, er wäre gebürtiger Insulaner, bestätigte er. Dann murmelte er etwas von „schönen, alten Dörfern und hohen Bergen“, die sich im Innern der Insel befänden.

In meinem rudimentären, lückenhaften Französisch fragte ich ihn nach der alten Sprache.

Sein Blick wurde ernst, fast ein wenig traurig. Sie würde kaum noch gesprochen, erwiderte er leise.

„Und die Buchstaben? Die alte Schrift?“ fragte ich vorsichtig. Das Blut pochte mir in den Schläfen.

Stille. Der Mann schaute zu Boden, sprach nicht weiter.

Einer der Angestellten verlor verlor die Geduld und drückte Jacques die Karte in die Hand. „Kannst du die Texte lesen?“, fragte er und tippte unwirsch auf die Fotos.

Jacques zog eine Brille aus der Brusttasche seiner Arbeitshose, klappte sie umständlich auseinander, setzte sie auf. Als sein Blick wieder auf die Karte fiel, erschrak er deutlich sichtbar. „Woher haben Sie die?“ fragte er leise. Mit weit aufgerissenen Augen starrte er mich an, die Karte begann zwischen seinen Fingern zu zittern.

„Ein Freund“, meinte ich verwirrt. „Ein Freund hat sie mir geschrieben.“

Er nahm die Brille ab, ohne den Blick von mir zu wenden. So mochte man einen Auserwählten anschauen, aber genauso gut jemanden, der im Begriff war, in sein Verderben zu laufen…

Plötzlich legte er die Karte wieder auf den Tresen und drehte sich weg, rieb sich die Augen. Erneut murmelte er etwas von „schönen Dörfern“ und „hohen Bergen“, dann ging er eilig zurück ins Hinterzimmer.

Die Angestellten schüttelten ihre Köpfe. „Er war schon immer etwas seltsam“, entschuldigte sich einer der drei.


Schnurgerade lief vor mir das Asphaltband mit seinen weißen Markierungen in die Ebene hinaus. Nichts verdeckte den Blick, man konnte bis zu den Bergketten am Horizont schauen, während im Rückspiegel die Hochhäuser von Plage d’Aiola allmählich verschwanden.

Aus dem Radio ertönte klassische Musik. Das Schiebedach und alle Seitenfenster waren geöffnet, ich genoss die frische, vom Gewitter gereinigte Luft. Himmel und See leuchteten so blau wie vor Beginn der Hitzeperiode, nichts war mehr zu erahnen von jenem seltsamen, unheilvollen Nebel, der bis gestern dort draußen gehangen hatte. Gestochen scharf zeichnete sich die Meereslinie ab; weiße Schönwetterwolken trieben vom Wasser kommend landeinwärts, als wollten sie mir den Weg weisen.

Ein Schauer durchlief mich, ein prickelndes Gefühl von Aufbruch und Abenteuerlust. Es war eine Fahrt ins Ungewisse, getragen nur von einer diffusen Idee. Irgendetwas wartete im Innern der Insel auf mich, aber ich hatte keine Ahnung, was es sein konnte…

Nach gut zwanzig Minuten Fahrt zeigten sich erste Erhebungen, sanft gerundete Felsbuckel, ähnlich denen, die ich am Vortag für Grabhügel gehalten hatte. Wenig später erschienen grüne Flecken in der ausgetrockneten, staubigen Landschaft – Büsche, Flechten, verkrüppelte Bäumchen. Ihr Wuchs verdichtete sich, Inseln aus Gesträuch entstanden, bildeten Archipele. Bis schließlich alles zu einem großen Pflanzenteppich verschmolz, der die Wüste unter sich zudeckte.

Immer höher warf das Land sich nun auf; die Felsbuckel wuchsen zu Hügelketten mit scharfen Kammlinien, deren bizarre Formen an urzeitliche Reptilien denken ließen. Die Straße wurde kurvig, ich musste das Tempo drosseln. Noch glitzerte das Türkis der See zwischen den Hängen, aber es wirkte bereits sehr fern.

Die Landkarte lag ausgebreitet auf dem Sozius, aber mittlerweile hatte ich es aufgegeben, meinen Weg mitzuverfolgen. Nur wenige Strecken führten zu dem zentralen Gipfelmassiv, das ich erreichen wollte, und mir schien, als hätte ich die Abzweigungen bisher richtig gewählt. Aber letztlich war es egal. Irgendwo würde ich schon ankommen, notfalls wieder an der Küste – immerhin war dies eine Insel.

Autos begegneten mir nur selten. In der Regel waren es alte, klapprige Kisten, deren Fabrikate ich nicht kannte und die mir in den Touristengegenden, hätte ich sie dort gesehen, bestimmt aufgefallen wären. Aber die meiste Zeit blieb es völlig einsam.

Schließlich ragte die Bergwelt des Innern wie eine massive, grün überwucherte Wand vor mir auf. Der Bewuchs entpuppte sich irgendwann als Wald: Nadelbäume standen dort dicht und kompakt, wie in den Mittelgebirgen meiner Heimatregion. Aber sie wollten partout nicht näherrücken, die bewaldeten Höhen. Ich fuhr und fuhr, sah die Straßenmarkierungen endlos vorbeiziehen, passierte Myriaden von Kurven – und hatte dennoch das Gefühl, mich kaum vom Fleck zu rühren. Unbewegt schienen die grünen Riesen, hochmütig, schroff, abweisend. Sie ließen mich nicht herankommen.

Meine Gedanken begannen abzuschweifen; Assoziationsketten bildeten und verzweigten sich. Szenerien erschienen vor meinem inneren Auge, Momentaufnahmen von früher, alte, verblasste Schnappschüsse, verwackelte Clips meines Lebens, meiner Vergangenheit… Alexandra und ich, unser Wegzug aus Berlin… das Ankommen in Hamburg. Wie war es damals mit uns weitergegangen?


Unsere neue Wohnung befand sich im mondänen Harvestehude. Trotz des allgegenwärtigen, unsympathischen Reichtums ein idealer Standort: Die juristische Fakultät lag gleich um die Ecke, bis zur Staatsbibliothek war es ebenfalls nicht weit. Alexandra ging in ihrer neuen Tätigkeit vollkommen auf; für sie gab es bald noch „das Institut“. Lang und ausschweifend erzählte sie mir abends von ihrer Arbeit, den vielen aufregenden Dingen, die sich tagsüber ereignet hatten. Ihr Forschungsprojekt wurde von den Stiftungen irgendwelcher Großunternehmen mitfinanziert, weshalb offenbar viel Geld zur Verfügung stand. Permanent waren internationale Koryphäen zu Gast, aus Forschung, Rechtsprechung und Politik. Einmal hielt sogar der Bundesjustizminister höchstselbst einen Vortrag.

Mein Job war weniger spannend. Er bestand überwiegend aus Verwaltungstätigkeiten, alles ging seinen trägen, sozialistischen Gang. Man machte Dienst nach Vorschrift, hangelte sich von Pause zu Pause. Es gab deren drei mit insgesamt gut 90 Minuten Länge, wobei nur die halbstündige Mittagspause offiziell war. Pünktlich zum Feierabend wurde der Stift fallengelassen. Kurz und gut: Es war eine ideale Arbeit für Leute, die sich vorhersehbare, gleichförmige und vor allem stressfreie Tagesabläufe wünschten.

Für Leute wie mich also. Zumindest hatte ich mich bislang immer zu diesem Personenkreis gezählt. Und doch spürte ich bereits nach einigen Monaten gähnende, klebrige Langeweile aufkommen. Beim Gedanken, mein Dasein bis zur Pension auf diese Weise fristen zu müssen, wurde mir zusehends unbehaglicher. Aber spätestens wenn der nächste Gehaltszettel kam und die Auszahlungssumme wieder so viele Ziffern hatte, schwanden alle Bedenken. Dabei hatte ich mich immer für nicht käuflich gehalten…

Auch im Privaten warfen wir unsere Maxime, unangepasst zu bleiben, jetzt über Bord. Da war zunächst diese absurd große Wohnung. Altbau, 150 qm, die Decken fast vier Meter hoch. Alexandra wollte sich nicht länger „einschränken“, sondern endlich leben, wie es ihrer Position zukam. Zumal ihr Vater einen Gutteil der horrenden Miete übernahm. Außerdem gab es ab sofort Wohn-, Ess- und Schlafzimmer. „Wenn schon bürgerlich, dann richtig“, scherzte Alexandra. Die Einrichtung war vom Feinsten und verschlang ein hübsches Sümmchen, natürlich ebenfalls berappt vom Familienpatriarchen. Diverse Dinge wären mir eingefallen, die man Sinnvolleres mit diesem Geld hätte anstellen können.

Ihre feministischen und politischen Aktivitäten hängte Alexandra in Hamburg komplett an den Nagel. Angeblich, weil ihr die Zeit fehlte. Aber irgendwann hörte ich, wie sie einer Freundin am Telefon erzählte, derartiges sei „nicht gut für die Karriere“ und „die Kollegen hätten dafür kein Verständnis“. Ich war geschockt. Sie, die aufrechte Linksaktivistin, die Sozialrevolutionärin – und solche Reden? Ich musste mich verhört oder etwas falsch verstanden haben. Leider traf weder das eine noch das andere zu, aber das sollte ich erst später erfahren.

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