15. Zombies in Sofa-Landschaft

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Mein Wahrnehmungsvermögen war spätestens seit dem Umzug merkwürdig eingeschränkt und langsam: Ich brauchte Ewigkeiten, um Gesagtes oder Gelesenes zu verarbeiten und darauf zu reagieren, Entscheidungen zu fällen, aktiv zu werden. Die stumpfsinnige Atmosphäre im Job verschlimmerte die Situation noch. Wobei Lethargie und Desinteresse dort kein Problem darstellten, im Gegenteil: Wer im Büro durch Arbeitseifer oder sonstiges Engagement auffiel, vom Pausenschwatz abgesehen, zog sich schnell den Unmut der Kollegen zu. Aber auch nach Dienstschluss war mir längst jegliche jegliche geistige Regsamkeit abhanden gekommen – wozu abends noch die Zeitung durcharbeiten, sich durch komplizierte Sachbücher quälen, langatmige Romane lesen? Der Kopf war leer, allein Fernsehen versprach Abhilfe. Buntes, kurzweiliges, anspruchsloses TV-Futter wie Serien, Reisesendungen, vielleicht noch mal die Nachrichten oder irgendeine Talkshow – mehr ging nicht mehr.

Und so wurde das vierte Zimmer unserer Wohnung, eigentlich als gemeinsamer Arbeitsraum gedacht, schlussendlich nur von Alexandra genutzt. Irgendwo mussten die Berge von Literatur ja bleiben, die sich im Laufe ihrer Dissertation ansammelten. Ich hatte Angst, dort alles durcheinander zu bringen, und betrat den Raum bald gar nicht mehr, beschränkte mich auf Schlafzimmer, Küche und mein Fernsehplätzchen im Wohnzimmer. Auf diese Weise vermied ich unnötigen Ärger, hatte meine Ruhe.

Wenigstens schafften wir es in den ersten Monaten noch, einigermaßen aktiv zu bleiben. So gingen wir samstags immer zum Markt an der Isestraße, anschließend kochten wir gemeinsam. Auch zu kulturellen Veranstaltungen, Lesungen, Kino, Theater, rafften wir uns gelegentlich auf. Aber irgendwann war es mit alldem vorbei. An den Wochenenden ließen wir uns das Essen jetzt nach Hause liefern, abends fläzten wir uns auf die Sofa-Landschaft und griffen zur Fernbedienung.

Während der Kasten vor sich hinquakte, führten wir sinnlose Dispute, zum Beispiel darüber, ob Werbung Kunst sei. Alexandra bejahte dies zuerst mit Nachdruck, während ich energisch dagegen argumentierte; später war es dann genau umgekehrt. Aber im Grunde spielte das Diskussionsthema keine Rolle; es ging um das Reden an sich. Wir hatten beide instinktiv Angst davor, in Schweigen zu verfallen, uns in eines dieser typischen Paare zu verwandeln, die jegliche Kommunikation eingestellt hatten, nur noch stumm nebeneinander hockten und wie bleiche Zombies auf die Mattscheibe starrten. Natürlich waren wir von diesem Zustand nicht mehr allzu weit entfernt, da machte ich mir nichts vor. Alexandra vermutlich auch nicht. Aber wir vermieden es beide tunlichst, darüber zu reden, die traurige Wahrheit laut auszusprechen.

Als in Berlin die Mauer fiel, überlegten wir, unserer alten Heimat einen Besuch abzustatten und die Zeitenwende live mitzuerleben. Immerhin hatte ich mal Politologie und Geschichte studiert. Dann aber konnten wir uns doch nicht aufraffen. Diese Bierseligkeit!, sagten wir uns. Diese komischen Ossis in ihren billigen Jacken und schlecht sitzenden Hosen, dazu ihre Trabbis und Wartburgs, umwölkt von blauem Zweitakterqualm! In Wahrheit war das eine faule Ausrede. Was wir im Fernsehen sahen, erinnerte so gar nicht mehr an unser ruhiges, mauer-geschütztes Berlin. Da entstand gerade etwas Neues, Fremdes, das uns nichts mehr anging, oder vielmehr: das uns Angst machte. Und so zogen wir es vor, das Ende des Eisernen Vorhangs, des Kalten Krieges auf der heimischen Couch in der Glotze zu verfolgen.

Die von Fehrens feierten gern opulente Feste in ihrer stattlichen, an der Außenalster gelegenen Villa. Es gab Dinners an Geburtstagen, eine alljährliche Gartenparty sowie das große Familientreffen an jedem ersten Weihnachtstag. Zu Berliner Zeiten hatte Alexandra diese Feiern meistens geschwänzt, sich herausgeredet mit der Arbeit fürs Studium, der langen, umständlichen Fahrt. Nun, da wir gerade mal einige Minuten von der elterlichen Villa entfernt wohnten, ging das natürlich nicht mehr. Wir mussten das Spiel mitspielen und unseren Teil dazu beitragen, der Außenwelt das Bild einer intakten Großbürger-Familie zu liefern. Ich hatte Alexandra selbstverständlich zu begleiten, immerhin war ich ihr Lebensgefährte, fast so etwas wie der Verlobte. Nebenbei saß ich auf einem Posten, den mir Herr von Fehren verschafft hatte…

Diese Veranstaltungen waren für mich stets ein Graus. Verloren stand ich inmitten all der feinen Herrschaften und versuchte, einen guten Eindruck zu machen. Betete innerlich, die passenden Worte zu finden, wenn ich angesprochen wurde. Hoffte, dass man nicht merkte, wie unwohl ich mich im Anzug fühlte, wie fremd mir dieses Upperclass-Milieu mit seinem Gehabe war. Und atmete jedes Mal auf, wenn endlich alles hinter mir lag.

Sehr selten erwachte ich aus meinem Tiefschlaf, wurde mir plötzlich wie in einem Gedankenblitz die Fragwürdigkeit meiner jetzigen Lebensführung bewusst. Unsere riesige Wohnung, das teure, bürgerlich-spießige Viertel und die Familienfeiern, mein trostloser Beamtenjob – was unterschied mich eigentlich noch von jenen Leuten, die ich früher immer verachtet hatte? Und doch schaffte ich es nie, den Gang der Dinge zu verändern; es war, als würden die Umstände mich beherrschen. Stromschnellen hatten mich erfasst und taten mit mir, was sie wollten; ich war dem Spiel der Elemente ausgeliefert.

Anfangs war ich immer per Bus zur Arbeit gefahren, aber inzwischen hatte ich das Zu-Fuß-Gehen für mich entdeckt. Das Langsame dieser Fortbewegungsweise entsprach meiner inneren Wahrnehmung. Wenn ich abends auf dem Rückweg von der Staatsbibliothek meinen Gedanken nachhängen konnte, überkam mich immer ein Gefühl tiefen Friedens, das ich längst nicht mehr missen wollte. Ich gewöhnte mir an, auf Umwegen nach Hause zu laufen. Erst waren es scheinbar zufällige Schlenker, die sich aber immer mehr zu Spaziergängen ausdehnten, durch unser Viertel bis zur Krugkoppelbrücke, bei gutem Wetter weiter bis Winterhude oder Ohlsdorf. An solchen Tagen kehrte ich erst spät nach Hause zurück, manchmal sogar später als Alexandra. Dann musste ich mich mit unverhofften Überstunden herausreden, mit hoher Arbeitsbelastung und ähnlichem. Innerlich konnte ich mir dabei ein Lachen nicht verkneifen: Mein Job und hohes Arbeitsaufkommen – welch paradoxe, geradezu absurde Kombination!

Alexandra begann sich zu verändern; Eigenschaften traten zutage, die ich früher nie an ihr bemerkt hatte. So empfand sie inzwischen jede kleine Unstimmigkeit zwischen uns, jede Gegenrede, die ich zu tun wagte, als persönlichen Angriff. Schlagartig gefror ihr Gesicht zu einer wächsernen Maske, die Lippen wurden zu schmalen, harten Strichen, die Nase trat spitz hervor. Die Augen weiteten sich in scheinbar grenzenlosem Entsetzen, um kurz darauf in Tränen zu schwimmen. Schließlich drehte sie sich brüsk weg und suchte das Weite. In der Regel schloss sie sich in ihrem Arbeitszimmer ein, kam Ewigkeiten nicht heraus, sprach auch anschließend lange kein Wörtchen mit mir. Wenn sie endlich aus ihrer Erstarrung erwachte, fielen wir uns in die Arme und gelobten feierlich Frieden. Kurz darauf ging alles von Neuem los.

Ich versuchte alles zu vermeiden, was sie hätte reizen können. Meistens erfolglos; je mehr ich mich bemühte, desto empfindlicher wurde sie. Lag es am Stress im Institut? Tatsächlich arbeitete sie inzwischen wie eine Irre, trotzdem schien es nie genug zu sein, immer wollten sie noch mehr von ihr. So jedenfalls erzählte es Alexandra. Hinzu kam der Druck von ihren Eltern, die wiederholt durchblicken ließen, dass alles andere als eine Promotion „cum laude“ ein Affront für sie sein würde, ein Beschmutzen des Familiennamens.

Schließlich musste ich einsehen, Alexandra völlig falsch eingeschätzt zu haben. Sie war nie die selbstlose Aktivistin gewesen, als die sie in Berlin immer hatte erscheinen wollen. Jegliches Engagement, ob politisch-gesellschaftlich oder beruflich, diente ihr lediglich als Vehikel, um Aufmerksamkeit zu bekommen. Beachtung, Zuwendung – daran litt sie verzweifelten, schier unstillbaren Mangel. Wenn die jeweilige Methode sich als ungeeignet herausstellte, ebendiesen Mangel zu beseitigen, wurde eine andere gewählt, zur Not auch eine Kehrtwende um 180 Grad vollzogen. In Berlin hatte Alexandra alle Energie und Leidenschaft in die Arbeit bei der Roten Hilfe gelegt. Jetzt stand die berufliche Etablierung im Fokus, und was hierfür nicht opportun war, wie zum Beispiel links-politisches Engagement, musste eliminiert werden, da durfte man nicht zimperlich sein oder gar sentimental. Ich hatte mich beim Belauschen des Telefonats mit ihrer Freundin also nicht verhört: Alexandra hatte alles genauso gesagt und gemeint.

Auch mein Albtraum begann in dieser Phase. Zunächst hatte ich ihn bloß selten und unregelmäßig, im Lauf der nächsten Monate aber verkürzten sich die Intervalle, bis er schließlich fast jede Nacht seine beklemmenden Bilder schickte: die leere, von bleichem Mondlicht erhellte Hochebene, der Flüchtende, die ekelhaften Spinnenwesen – es war entsetzlich. Was hatte es damit nur auf sich? Welchen Bezug gab es zwischen dem Fliehenden und meinem eigenen Leben?

Endlich kam der Zeitpunkt, da Alexandra ihre Promotion abschloss, gottlob „cum laude“. Das Ereignis wurde gebührend begangen, in einem der altehrwürdigen Ruderclubs an der Außenalster. Herr von Fehren hatte so ziemlich die gesamte feine Hamburger Gesellschaft eingeladen: erfolgreiche Unternehmer, Zeitungsverleger, bekannte Wissenschaftler – alles war vertreten. Im Laufe des Abends präsentierte er, sichtlich stolz, sein Geschenk für Alexandra: ein Haus im Familienbesitz, in dem sie auf unbegrenzte Zeit mietfrei wohnen durfte. Es lag in Elmshorn, einem Vorort nordwestlich von Hamburg. Alexandras Großtante, die bislang dort gelebt hatte, war kürzlich in ein Seniorenstift übergesiedelt.

Im ersten Moment glaubte ich an einen Scherz. Vorort – schon bei diesem Wort spürte ich Beklemmungen. Alexandras Reaktion jedoch löste einen regelrechten Schock bei mir aus: Sie fiel ihrem Vater glücklich um den Hals.

Geistesgegenwärtig schluckte ich meine Bestürzung hinunter, machte gute Miene zum bösen Spiel. Am nächsten Tag besprach ich das Thema in Ruhe mit Alexandra: Sie würde bereits seit längerem über Kinder nachdenken, eröffnete sie mir. Jetzt, nach erfolgreich abgeschlossener Promotion, sollte ihr Traum endlich Realität werden, da käme das Elmshorner Haus doch gerade recht. Sie zeigte sich aufrichtig überrascht, dass ich nicht längst ähnliche Gedanken gehabt hatte.

Nachwuchs – bislang für mich bloß ein Wort, ohne Bedeutung für mein eigenes Leben. Und nun nahm meine Partnerin es allen Ernstes in den Mund. Mehr noch: Sie wollte den Reden schnellstmöglich Taten folgen lassen.

Weiß der Teufel, was den Umschwung meiner Gefühle bewirkte. Vielleicht lag es an den Rückmeldungen, die ich im Dienst bekam. „Logische Konsequenz“, meinte mein Schreibtischnachbar, als ich ihm von Alexandras Wünschen erzählte. Die Neuigkeit machte per Flurfunk rasch die Runde. Unser Referatsleiter vertraute mir an, dass die Geburt seines Sohnes der zuletzt schwächelnden Ehe frischen Schwung verliehen habe. Eine Kollegin wollte entzückt wissen, wann denn geheiratet würde, und konnte mir sogleich eine fähige Hochzeitsplanerin empfehlen. „Da wird euer Fest zum echten Event“, versprach sie mir. Jedenfalls fand ich den Gedanken an Kinder bald nicht mehr ganz so grotesk. Warum sollten wir vom üblichen Muster abweichen? Und vielleicht war Nachwuchs ja wirklich das Mittel der Wahl, die Beziehung zwischen Alexandra und mir neu zu beleben?

Nach drei Jahren Harvestehude zogen wir also vor die Tore der Stadt. Das Haus war in den Zwanzigern erbaut worden, aber Herr von Fehren hatte es nach modernen Gesichtspunkten renovieren und einrichten lassen. Ergänzt mit unseren eigenen Möbeln kam ein gediegenes Anwesen zustande. Die Bahnanbindung war hervorragend; ich brauchte jetzt eine halbe Stunde zur Arbeit, Alexandra nur wenige Minuten mehr. Wir nahmen morgens gemeinsam den Zug, stiegen am Dammtor-Bahnhof aus und gingen nach einer kurzen Umarmung unserer Wege.

Abends fuhr ich in der Regel allein zurück. Ich verlegte meine Feierabendspaziergänge einfach in die neue Umgebung, stieg bereits vor Elmshorn aus, in Tornesch oder Prisdorf. Durchquerte die Vororte, marschierte durch die Feldmark, genoss Stille und Grün. Im Großen und Ganzen war ich zufrieden. Mit der Entfristung meiner Planstelle hatte es tatsächlich geklappt, seit einigen Monaten durfte ich mich ‚Beamter‘ nennen. Angeblich hatte ich sogar Aussichten auf den Posten eines stellvertretenden Referatsleiters, nicht recht wissend, was mich dafür eigentlich qualifizierte.

Alexandra, nunmehr frisch gebackene Frau Dr. von Fehren, arbeitete weiterhin in ihrem alten Forschungsprojekt, strebte jetzt die Habilitation an. Für sie lief alles nach Plan: Ihre Karriere machte Fortschritte, die Einkünfte stimmten, ein fester Lebenspartner war vorhanden, genauso das repräsentative, kindertaugliche Eigenheim im Grünen. Und nach dem Mutterschaftsurlaub würde sie in ihrem Projekt weiterarbeiten können.

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