18. Nest in den Gipfeln

©Bild: Pierre Bona, CC BY-SA 3.0 https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0, via Wikimedia Commons

Das leere Asphaltband, die kahle, felsige Ebene, Berggipfel, die das Rot der untergegangenen Sonne reflektierten – stundenlang war ich einfach nur gefahren. Allmählich wurde es dunkel; höchste Zeit, sich eine Unterkunft für die Nacht zu suchen. Auch eine Mahlzeit konnte nicht schaden, mein letzter Imbiss lag nunmehr einen halben Tag zurück. Ich lenkte den Wagen an den Straßenrand und bremste. Staub wirbelte hoch, der als weiße, kompakte Wolke davontrieb.

Beim Aussteigen erschrak ich fast über die Kälte – welch ein Gegensatz zur feuchtschwülen Suppe unten im Tal! Rasch öffnete ich auch die Beifahrertür, um für Durchzug zu sorgen, dann lief ich ein paar Schritte. Die klare Luft erfrischte und belebte wie ein Elixier; meine Sinne schienen plötzlich geschärft, trotz der hereinbrechenden Dämmerung nahm ich alles ungewohnt deutlich wahr. Die schmale Straße, die sich zwischen den Felsen hindurchwand. Die kargen Sträucher der Ebene, von Windböen geschüttelt. Die blutrot gefärbten Gipfel. Den kristallenen, unendlich hohen Himmel, an dem die ersten Sterne glommen. Und vor allem diese nahezu vollkommene Stille.

Wohin mochte es mich verschlagen haben? Ich ging zum Wagen zurück und griff nach der Straßenkarte. Leider fanden sich in der Landschaft keinerlei Orientierungspunkte, die man mit der Karte hätte zusammenbringen können, weder Häuser oder Ortschaften noch ein Fluss, See oder sonst eine geografische Auffälligkeit. Die letzte Abzweigung lag Ewigkeiten zurück, und Wegweiser hatte es während der gesamten Strecke kaum gegeben. Um mich waren nur Bergmassive, so weit man schauen konnte.

Notgedrungen stieg ich ins Auto und fuhr weiter. Das Abendrot über den Gipfeln war mittlerweile erloschen, das Tageslicht schwand rapide, würde bald ganz fort sein. Und noch immer ließ sich nirgends etwas ausmachen, was auf eine Herberge hindeutete. Vielleicht war es klüger, irgendwo zu parken, im Auto zu übernachten und die Fahrt morgen fortzusetzen?

Ich begann mich bereits mit dieser Idee anzufreunden, als in der Ferne etwas auftauchte, das mit gutem Willen eine Ansammlung von Häusern sein konnte. Und tatsächlich: Beim Näherkommen erkannte man ein Dorf, einen Weiler, der wie ein Adlerhorst zwischen den Felsen klebte. Ein quadratischer Kirchturm ragte wuchtig in den Abendhimmel, unterhalb der Häusergrenze verliefen Reste einer alten Wallanlage. Große Erleichterung! Und doch fragte ich mich insgeheim, wie es möglich war, so lange über diese Insel zu fahren, diese nicht sonderlich große Insel, ohne irgendwo anzukommen, ohne wenigstens ein einziges Mal die See zwischen den Bergen zu sehen…

Kurz vorm Dorfeingang wurde die Teerstraße zu Kopfsteinpflaster. Ich bremste ab, fuhr im Schritttempo weiter. Statt eines Ortsschildes gab es am Straßenrand einen klobigen Wegstein mit einem Schriftzug, den ich in der Dämmerung allerdings nicht lesen konnte. Die Hauswände waren allesamt unverputzt, sie zeigten die rohen Granitblöcke, aus denen sie gemauert waren. Altmodische Straßenlaternen verbreiteten gelbliches Schummerlicht. Auf einem kleinen, gepflasterten Platz saßen ein paar alte Männer zusammen. Stumm schauten sie mir nach, als ich an ihnen vorüberfuhr – sofort musste ich an eine ähnliche Szene in Porto d’Arreccio denken, im anderen Teil des Ortes. Die fremde Schrift war ebenfalls zurück, wie ich beim zufälligen Blick auf einen Wegweiser entdeckte.

Ein Gasthof, direkt an der Straße! Ohne zu bremsen lenkte ich den Wagen nach links auf einen kleinen Parkplatz neben dem Eingang und ließ ihn dort ausrollen. Beim Aussteigen hatte ich das unbestimmte Gefühl, aus allen Richtungen beobachtet zu werden – obwohl man nirgends Menschen sah. Neben der geöffneten Eingangstür standen ein paar rostige Bistromöbel, von drinnen kamen Stimmen und Gelächter, manchmal klirrten Gläser.

Ich musste ein Gefühl der Beklommenheit niederkämpfen, ehe ich den Vorraum betrat. Hinter einem mit Troddeln verhängten Durchgang kam ich in die Gaststube. Schummriges Licht, drei oder vier mit Wachstuch bespannte Tische, eine rot gestrichene Theke, hinter der ein Wirt Gläser putzte; ein großer, athletisch gebauter Mann mit höckriger Nase und buschigen Augenbrauen, die über der Nasenwurzel zusammenwuchsen… alles hier erinnerte bis ins Detail an die Gaststätte, die ich mit Vivienne besucht hatte! Einen Augenblick lang wusste ich nicht mehr, wo ich mich befand.

Sogar die alten Männer an ihrem Ecktisch gab es, nur ließen sie sich, anders als in Porto d’Arreccio, nicht stören durch den Neuankömmling. Sie schauten kurz auf, taxierten mich und wandten sich in aller Seelenruhe wieder ihrem Würfelspiel zu. Eine Wolke aus Qualm hing über ihren Köpfen, der Tisch war mit Gläsern und Weinkaraffen vollgestellt.

Auch bemerkte ich jetzt Bartstoppeln im Gesicht des Wirts; sein Doppelgänger hatte glattrasierte, glänzende Wangen gehabt. Dann diese fettigen, schulterlangen Haare anstelle der sorgfältig frisierten Locken vom Vortag. Und wo mich gestern wache Augen gründlich taxiert hatten, blickte mir nun eine uninteressierte, fast gelangweilte Miene entgegen. Nein, ich hatte mich getäuscht!

Die Würfelspieler palaverten in den kehligen, abgehakten Lauten, die ich bereits kannte. Die Sprache des Inselinnern… genau wie Jacques es gesagt hatte, der alte Mann im Hotel. Auf einmal kamen mir Zweifel, ob die Einheimischen mich wohl verstehen würden. Aber schon fragte der Wirt: „Chambre?“ Ich nickte ihm zu und schalt mich innerlich selbst: Natürlich wurde hier auch Französisch gesprochen. Ich war schließlich nicht in der Wildnis gelandet, wo alle nur ihr Stammesidiom beherrschten.

Der Wirt trocknete die Hände ab und griff nach dem Gästebuch, das neben ihm auf dem Tresen lag. „Für wie lange?“. Er drehte das Buch zu mir, wies stumm darauf. „Kann ich noch nicht sagen“, antwortete ich, ebenfalls auf Französisch. „14 Tage, vielleicht länger.“ Hatte ich überhaupt genug Bargeld dabei? Kartenzahlung war hier bestimmt nicht möglich, und dass es im Ort einen Automaten gab, bezweifelte ich. Aber erst mal unterkommen, etwas essen und dann ausgiebig schlafen. Das Geldthema konnte ich bei anderer Gelegenheit klären; notfalls musste ich mir halt unten im Tal irgendwo Cash besorgen.

Ich trug Namen, Adresse und das heutige Datum ein. Das Feld mit dem Abreisedatum ließ ich leer. Neugierig blätterte ich zurück, aber außer meinem fand sich kein einziger Eintrag in den welligen, vergilbten Seiten. Sehr eigenartig…

„Sie können sich ein Zimmer aussuchen. Die Schlüssel stecken in den Türen.“ Der Wirt wies auf die schmale, nach oben führende Treppe seitlich des Tresens, dann wandte er sich wieder seiner Arbeit zu. Als ich mit dem Gepäck vom Auto zurückkam, fragte ich ihn nach dem Namen des Ortes. Er stutze, und ich nahm bereits an, dass er die Frage nicht verstanden hatte, wegen meines Akzents. Dann murmelte er ein paar kehlige Laute in jener fremdartigen Sprache.

„Und auf französisch?“ Ich blieb hartnäckig. Auch dieses Dorf musste einen französischen Namen besitzen, der sich vielleicht auf der Karte finden ließ.

Erneut Stutzen, diesmal etwas länger. Dann kam dieselbe unverständliche Lautfolge wie eben, mit leicht verschnupftem Unterton. Duldete er in dieser Sache keine Zweideutigkeiten? War das jener Patriotismus, der in Gebieten mit ausgeprägter Regionalkultur gern gepflegt wurde? Ich ließ es fürs Erste bleiben – besser nicht schon zu Beginn unangenehm auffallen.

Gerade wollte ich die Treppe hochsteigen als mein Blick auf ein kleines Regal neben dem Tresen fiel, das mit Ansichtskarten bestückt war. Ich wunderte mich schon nicht mehr über die nostalgischen, nachträglich kolorierten Fotografien, die Bildunterschriften in den unbekannten Lettern, bis mir eine bestimmte Motiv-Kombination ins Auge sprang: Da war der Berg in den Wolken, der Ort mit dem alten Hafen, auch die Hochebene… mein Herzschlag beschleunigte sich. Lennards Karte, es gab keinen Zweifel! War er ebenfalls in diesem Gasthof abgestiegen? Hatte er von hier jene Urlaubskarte abgeschickt, die nun in meinem Koffer steckte? Da war es wieder, dieses unbestimmte und dennoch starke Gefühl, seine Spur gefunden zu haben!

Ob ich den Wirt nach ihm fragen sollte? Aber wie? Der Name würde ihm bestimmt nichts mehr sagen, nach so langer Zeit. Wirklich sehr ungünstig, dass ich kein Foto besaß, das ich ihm hätte zeigen können. Ihm und gegebenenfalls anderen Leuten im Ort.

Die Treppe hatte zur Gaststube hin kein Geländer. In Deutschland wäre dergleichen undenkbar gewesen; irgendein TÜV oder ähnliches hätte es garantiert verboten, aus Sicherheitsgründen. Aber solche Institutionen existierten hier vermutlich nicht; allein der Gedanke erschien mir lächerlich. Im ersten Stock war es ziemlich dunkel, trotzdem erkannte man, dass die Schlüssel tatsächlich in den Türen steckten. Genauer: in den beiden Türen. Weitere Räume schien es hier oben nicht zu geben. Nach kurzem Überlegen entschied ich mich für das hintere, weiter von der Treppe weg liegende Zimmer. Die zierliche, altersschwache Holztür knarrte beim Öffnen leise; abgestandene Luft schlug mir entgegen. Ein altmodisches Doppelbett mit hölzernen Nachttischen füllte zwei Drittel des Raums. Gegenüber gab es einen Kleiderschrank, außerdem eine Sitzgruppe mit zwei Sesseln und einem Tischchen. Ein niedriger Durchgang an der Seite führte ins Bad mit Toilette und Dusche. Der Duschvorhang wies am Saum Schimmelspuren auf. Die beiden Handtücher waren an mehreren Stellen eingerissen, rochen aber frisch gewaschen.

Als erstes öffnete ich beide Fensterflügel sperrangelweit. Direkt unter mir befand sich der Parkplatz mit meinem Wagen. Auf der anderen Straßenseite wuchsen hohe Bäume, deren Laub stellenweise bereits gelb wurde, dahinter stieg ein bewaldeter Hang in die Höhe. Zur Rechten konnte man ein Stück der Dorfstraße überblicken. An der Ecke gegenüber ragte eine der altertümlichen Laternen aus der Hauswand und sandte ihr schummriges Licht aufs Pflaster.

Und wie war es hier drinnen mit Strom? Suchend blickte ich mich um und entdeckte neben der Tür einen Drehschalter, von dem aus ein Kabel über Putz in die Höhe lief. Ein kurzes Drehen, ein Widerstand, dann ein Klacken, und eine stoffbespannte Deckenlampe schien auf.

Nach einer Weile hatte ich mich eingerichtet. Die Klamotten hingen im Schrank, das Waschzeug war im Bad ausgebreitet. Reiseführer und Straßenplan lagen griffbereit auf dem Tisch, Lennards Karte hatte ich wie ein Bild gegen die Nachttischlampe gestellt. Meine Brieftasche wollte ich jederzeit bei mir behalten, sie des Nachts unters Kopfkissen legen. Selbst im unwahrscheinlichen Fall, dass es hier einen Hotelsafe gab: Der Wirt machte keinen vertrauenerweckenden Eindruck auf mich.

Schließlich ging ich wieder nach unten. Ich musste unbedingt etwas essen.


Das Abendbrot war einfach gewesen, aber erfrischend und stärkend. Schafskäse, vielleicht aus heimischer Produktion, dazu Brot, Oliven und Früchte, Rotwein und Wasser. Jetzt lag ich auf dem Bett, bei ausgeschaltetem Licht und nach wie vor offenem Fenster. Die frische Abendluft hatte mittlerweile jeden Winkel des Raums erreicht. Von draußen war nicht der geringste Laut zu hören.

Morgen wollte ich den Ort unter die Lupe nehmen, vielleicht ein paar Einheimische ansprechen. Aber es würde schwer werden. Mir fehlte definitiv ein Foto, hinzu kam das Sprachproblem. Und falls die Leute hier alle so mundfaul waren wie der Wirt, würde es einiger Hartnäckigkeit bedürfen, um an Informationen zu gelangen. Hartnäckigkeit, die ich womöglich nicht aufbrachte. Ich war einfach kein Investigativ-Typ.

Die Kirchturmuhr schlug: zehn mal. Ein Blick auf meine Armbanduhr: zehn vor acht. Komisch, die Uhr stellte sich normalerweise automatisch, per Funksignal. Dann sah ich, dass der Sekundenzeiger stillstand – offenbar war die Batterie leer. Mist, hier konnte man sicher keine neue kaufen. Ich band die Uhr ab und wollt sie auf den Nachttisch legen. Erneut betrachtete ich die eingefrorenen Zeiger: Zehn vor acht – war ich nicht um diese Zeit hier angekommen? Wirklich ein seltsamer Zufall…

Immerhin funktionierte mein guter, alter Wecker: Brav drehte der Sekundenzeiger seine Runden, leises, regelmäßiges Ticken war zu hören. Die Zeit allerdings machte mich stutzig: elf Uhr – hatte ich mich eben beim Zählen der Glockenschläge vertan?

Ich schloss das Fenster, schaltete die Nachttischlampe ein. Dann nahm ich die Straßenkarte vom Tisch und klappte den Ausschnitt mit dem zentralen Teil der Insel auf: Ein paar wenige Ortschaften waren eingezeichnet, aber nur mit ihren französischen Namen. Auch sonst ließ sich nichts finden, das Rückschluss auf meinen Standort hätte geben können. Resigniert packte ich die Karte zur Seite, legte mich wieder aufs quietschende Bett und schaute gedankenverloren nach oben.

Nach einer Weile hörte man von draußen erneut Glockenschläge: elf an der Zahl, Irrtum ausgeschlossen. Der Wecker aber zeigte Mitternacht. Welche Uhr ging falsch? Oder galt hier möglicherweise die Sommerzeit nicht? Pfiffen die Einheimischen vielleicht darauf? Bei der Abgelegenheit dieses Ortes erschien mir das durchaus denkbar. Zur Sicherheit stellte ich den Wecker eine Stunde zurück – ich wollte nicht der Einzige sein, der sich hier nach der Sommerzeit richtete.

Zufrieden knipste ich das Licht aus. Kaum hatte ich mich auf die Seite gedreht, war ich auch schon eingeschlafen.

Loading

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert