
©Bild: jeffwarder, CC BY-SA 3.0 https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0, via Wikimedia Commons
Nach dem Aufwachen am nächsten Morgen glaubte ich, noch in Plage d’Aiola zu sein. Erst nach einigen Sekunden kam die Erinnerung. Ein Blick zum Wecker: halb zehn! Eilig stand ich auf – ich wollte die Zeit hier nicht im Bett verbringen. Mein Rücken schmerzte, vermutlich von der durchgelegenen Matratze.
Eine kühle Dusche weckte meine Lebensgeister wieder. Wie eng das Bad war und wie schmal die Tür! Als ob die Menschen hier kleiner wären als anderswo – was zumindest im Falle des Wirtes nicht zutraf. Guter Dinge ging ich hinunter in die Gaststube. Niemand war hier, aber auf einem der Tische lag ein Gedeck. Kaum hatte ich mich gesetzt, erschien eine Frau aus dem Raum hinter dem Tresen. Die Gattin des Wirtes? Oder eher seine Tochter, dem jugendlichen Alter nach zu schließen?
„Bonjour“, sagte sie leise. Ihre pechschwarzen Augen streiften mich kurz, dann blickten sie scheu zu Boden. Ich grüßte freundlich zurück. Das dunkle Haar war zu einem buschigen Zopf zurückgebunden, dessen lockige Enden ihr in den Nacken fielen. Trotz der kräftigen Statur und der fremdartigen, südländischen Herbheit des Gesichts mochte ich sie leiden. Vielleicht war es das Natürliche, Unarrangierte ihres Äußeren.
„Frühstück?“, fragte sie. Ich nickte.
Sie ging nach hinten und kam mit einem Tablett zurück, auf dem geröstete Baguettes, Butter, Marmelade und ein kleiner Käseteller angerichtet waren. Eine Wasserkaraffe sowie ein Kännchen Milch standen bereits auf dem Tisch. Als die Wirtin das Tablett vor mir abstellte, sah ich die dunklen Härchen auf ihren Unterarmen. Wie bei Vivienne.
„Café?“ Wieder richteten sich ihre schwarzen Augen auf mich.
„Ja, bitte.“ Unwillkürlich musste ich lächeln, worauf sie rasch wieder nach unten schaute und errötete. Sie brachte mir ein Metallkännchen mit Kaffee und verschwand wieder nach hinten.
Während ich frühstückte, ließ ich den Blick umherschweifen. Sonnenlicht fiel durchs geöffnete Fenster auf die brüchige Wachstuchtischdecke. Der hellrote, allmählich abblätternde Wandanstrich wirkte eigenartig dekorativ, als habe man ihn bewusst so gestaltet, um einen Ausdruck südländischer Lässigkeit zu erzeugen. Was sicher nicht stimmte. An der Theke klebte ein Schwarzweiß-Poster mit einem Fußballteam darauf. Neben meinem Tisch ragte ein Vorsprung aus der Wand, wie von einem zugemauerten Kamin. Auf dem Sims waren einige alte Tonvasen und ein rostiger, verbeulter Kessel drapiert; auch dieses scheinbar zufällige Arrangement hatte etwas sehr Effektvolles.
Rasch waren die drei, vier Brotscheiben verdrückt – hoffentlich gewöhnte ich mich an das karge Frühstück, das hier offenbar gereicht wurde. Die gefüllte Obstschale auf dem Nebentisch war zu verlockend: Kurzerhand nahm ich mir zwei Bananen und eine Apfelsine heraus und verstaute sie im Rucksack. Meine Wasserflasche füllte ich einfach aus der Karaffe auf dem Tisch. Dann brach ich zu einem Erkundungsgang auf.
Wie gestern zeigte der Himmel kein Wölkchen, gleichzeitig war die Luft frisch und angenehm. Der Reiseführer hatte behauptet, das Wetter im Inselinnern wäre wechselhaft und kühl. Davon merkte man hier nichts. Waren wir zu hoch, möglicherweise über den Wolken? Oder hing es mit der Jahreszeit zusammen? Ich würde die entsprechende Passage noch einmal lesen.
Am Dorfplatz hatte sich die Seniorenrunde bereits wieder auf ihrer Bank versammelt. Mein „Bonjour“ erwiderten die alten Männer mit stummem, aber freundlichem Nicken. Ich nahm eines der Gässchen, die von hier sternförmig ausgriffen, und lief nach Geratewohl herum. Der Ort schien weitestgehend in seiner ursprünglichen Form erhalten; nur selten störten Errungenschaften der Neuzeit den malerischen Eindruck der alten Häuser und Straßenzüge: hier eine Laterne, dort ein Stromkabel, das an einer Steinwand entlanglief. Antennen oder Satellitenschüsseln waren keine zu sehen, auch Autos parkten nirgends. Die wenigen Fahrzeuge, die über die holprige Dorfstraße tuckerten, waren allesamt alt und von mir unbekanntem Fabrikat.
Nie waren die Wege lang, überall kam man schnell an die Ortsgrenze und schaute hinaus in die Bergwildnis. Oder man landete wieder auf dem Dorfplatz. Um diesen gruppierte sich eine Handvoll Geschäfte; ihre unauffälligen Ladenschilder aus Emaille zeigten die fremdartigen und mittlerweile doch vertrauten Lettern. Es gab einen altmodisch eingerichteten Friseursalon, außerdem ein wuchtiges, offiziell wirkendes Gebäude, das ein Amt oder das Rathaus sein mochte. Die Niveauunterschiede zwischen den Häusern waren teils beträchtlich; bei einigen Abstiegen wurde mir regelrecht schwindelig, so steil führten die schlecht gepflasterten, unregelmäßigen Treppen in die Tiefe. Geländer hatten sie meistens nicht, man musste sich am Mauerwerk abstützen.
Auch Menschen begegnete man nur selten. In der Regel waren es alte Leute, die auf Bänken saßen oder in Hauseingängen zusammenstanden und einen Plausch hielten – offenbar ein typisches Bild dieser Insel. Wo mochten die Kinder abgeblieben sein? In der Schule? Ein entsprechendes Gebäude hatte ich bislang nirgends gesehen. Vielleicht lag es in einem der Nachbarorte, und ein Bus oder sonstiger Fahrdienst brachte die Schüler morgens dorthin, sodass sie tagsüber fort waren.
Irgendwann kam mir der Grenzstein wieder in den Sinn. Ich kehrte zur Dorfstraße zurück, prüfte, aus welcher Richtung ich gestern abend gekommen war und lief dann bis zum dortigen Ortsausgang. Rasch fand ich ihn: Wie ein großes, schlafendes Tier lag er am Straßenrand und präsentierte dem vorbeifahrenden Besucher seinen Schriftzug – leider nur in den altertümlichen, kryptischen Lettern. Ich versuchte die Zeichenkette im Straßenplan wiederzufinden, ohne Erfolg: Sämtliche Ortsbezeichnungen waren dort ausschließlich in lateinischen Buchstaben angegeben. Hatte dieses Dorf wirklich keinen französischen Namen? Oder weigerten sich die Bewohner schlicht, ihn zur Kenntnis zu nehmen? War dies vielleicht eine autonome Region, für die irgendwelche besonderen Gesetze galten? Jedenfalls blieb es mir ein Rätsel, wohin es mich verschlagen hatte.
Ein Stück die Landstraße hinunter gab es eine Art Aussichtspunkt, ein Grüppchen schattenspendender Bäume mit einer verwitterten Holzbank darunter. Hier setzte ich mich, um einen Moment zu verschnaufen. Inzwischen hatten wir Nachmittag – auf dieser Insel erfahrungsgemäß die Tageszeit mit den drückendsten Temperaturen. Aber die Luft blieb angenehm; aus den Bergen kam permanent ein erfrischender Wind heran. Ich holte die Apfelsine hervor, schälte sie und schob mir das erste Stück in den Mund – es war überraschend sauer. Als ich alles aufgegessen hatte, fühlte ich mich deutlich belebt und erfrischt.
Die Fernsicht war atemberaubend, geradezu unwirklich. Ein Pfad, der zunächst über die Wiesen in der Umgebung mäanderte und dann in die Berge führte, ließ sich ewig weit verfolgen. Wo mochte er hier im Dorf beginnen? Vorhin bei meiner Ortsbesichtigung war er mir nicht aufgefallen. Er hätte sich eine Wanderung angeboten, aber dazu wäre eine bessere Karte unabdingbar gewesen. Wirklich ärgerlich, dass ich in Plage d’Aiola keine hatte auftreiben können.
Zwischendurch ein kurzer Blick aufs Handy: Es zeigte eine völlig absurde Uhrzeit an. Vielleicht lag es am fehlenden Empfang: Die Signalstärke lag bei Null. Als ich testweise die Nummer meines Buchversand-Händlers in Deutschland wählte, kam sofort die Anzeige „Verbindung nicht möglich!“.
Schließlich ging ich zum Gasthof zurück. Mein Wagen stand wohlbehalten auf dem kleinen Parkplatz, noch immer der einzige fahrbare Untersatz weit und breit. Sein Anblick wirkte beruhigend: Zur Not konnte er mich schnell zurückbringen in die Zivilisation. Ich zog den Autoschlüssel hervor, öffnete die Fahrertür und schaltete die Zündung ein – wie um sicherzugehen, dass alles noch funktionierte. Aufs Starten des Motors verzichtete ich, drehte stattdessen das Radio an: Die Frequenzanzeige begann zu rotieren, auf und ab, und wieder von vorn, bis sie es schließlich aufgab. Nur gleichförmiges Rauschen und Pfeifen tönte aus den Lautsprechern, keine Musik, kein Geplapper. Es blieb dabei: Diese Gegend war ein komplettes Funkloch.
Drinnen hatte sich wieder die Würfelrunde des Vorabends zusammengefunden, der Wirt heute mitten unter ihnen. Gläser klirrten, die unvermeidliche Wolke aus dichtem, blauem Qualm hing über den Spielern. Sie schenkten mir keinerlei Beachtung, als ich an ihnen vorbei zur Treppe ging. In meinem Zimmer war es trotz der geschlossenen Vorhänge ähnlich stickig wie gestern abend, bei meiner Ankunft. Ich zog die Stoffhälften zurück und öffnete beide Fensterflügel weit.
Nach dem Duschen und Umziehen ging ich wieder hinunter in die Gaststube. Eigentlich stand mir nicht der Sinn danach, hier in rauchgeschwängerter Luft zwischen lärmenden Spielgesellen zu sitzen, aber ich war hungrig und musste etwas essen. Als der Wirt mich sah, bekam sein Gesicht einen leicht genervten Ausdruck. Er bellte irgendwas Unverständliches nach hinten; kurz darauf eilte Wirtin mit ihrem Tablett aus der Küche herbei und servierte mir dieselbe einfache, schmackhafte Mahlzeit wie am Vorabend.
Während des Essens beobachtete ich aus den Augenwinkeln das Geschehen. Bis auf den Wirt waren alle Mitglieder der Zockerrunde alt. Man sah zerfurchte Gesichter, deren Augen manchmal vom Schirm einer Baskenmütze verdeckt wurden. Zigarren und filterlose Zigaretten hingen zwischen spröden Lippen; einige Münder wiesen Zahnlücken auf. Dem Wirt kam offenbar die Rolle des Einheizers und Antreibers zu. Wenn die Getränke auszugehen drohten, genügte ein kurzes Grölen seinerseits, und die junge, schüchterne Frau brachte neue Weinkaraffen. Während sie die leeren einsammelte, begrapschte der Wirt sie unter Zurufen aus der Runde, gab ihr einmal einen derben Klaps auf den Allerwertesten und erntete schallendes Gelächter. Mit hochrotem Kopf ließ die Wirtin alles über sich ergehen und eilte schließlich von dannen.
Ich kauerte peinlich berührt über meinem Essen. Gern hätte ich der Frau geholfen, aber meine Feigheit verhinderte leider, dass ich die Rolle des edlen Helden übernehmen konnte. Eines jedenfalls schien klar: Seine Tochter würde der Wirt kaum so behandeln, also musste sie eine Angestellte sein, vielleicht auch seine Ehefrau oder Freundin, trotz des Altersunterschieds.
Schließlich lag ich im Dunkeln auf dem Bett, bei geöffnetem Fenster. Die Glocke des Kirchturms schlug – es war gerade mal zehn.
Ob meine Armbanduhr inzwischen wieder lief? Ich knipste die Nachttischlampe an, schaute aufs Zifferblatt: zehn vor acht. Bisher hatte ich ja die Batterie im Verdacht gehabt, aber nun kam mir ein anderer Gedanke: Blieb die Uhr vielleicht stehen, wenn sie kein Zeitsignal mehr empfing? Obwohl es in der Bedienungsanleitung geheißen hatte, in diesem Fall würde der Freilauf einsetzen. Außerdem hatte mir der Verkäufer hoch und heilig versprochen, das Signal wäre „an jedem Punkt dieser Welt zu empfangen“.
Es musste also doch an der Batterie liegen.